Noch im Juni hatte Russland unmittelbar vor dem Verfassungsreferendum den Sieg über das Coronavirus erklärt: Jetzt befindet man sich mitten in der zweiten Welle. Dadurch hat sich die Wirtschaftsdynamik abermals schlagartig verlangsamt.
Nicht nur in Moskau wurden neue Beschränkungen eingeführt, etwa Unternehmen dazu geraten, Büros abermals weitgehend zu schließen. Die Wirtschaftsdynamik hat sich abermals schlagartig verlangsamt. Ängste vor einem zweiten, potenziell verheerenden Lockdown wachsen. Noch beharren Behörden darauf, dass dies jedenfalls nicht in Sicht ist. Vorerst zumindest.
Trotz eines Verfalls der Ölpreise, eines OPEC+-Übereinkommens, das die Ölproduktion – Russlands wichtigste Einnahmequelle – drastisch reduzierte sowie einer landesweiten Quarantäne, einer der strengsten weltweit, fiel die Wirtschaft im zweiten Quartal um „nur“ 8,5 Prozent. Vor der sich nunmehr abzeichnenden zweiten Welle sagten Ökonomen für 2020 einen Rückgang um vier Prozent voraus (besser als die meisten Industrie- und Schwellenländer). Auch blieb die Inflation unter dem Zielwert der Zentralbank von vier Prozent, trotz historisch niedriger Zinssätze. Offiziell stieg die Arbeitslosigkeit lediglich um etwa zwei Prozent. Allerdings geht die Moskauer Higher School of Economics (HSE) davon aus, dass mittlerweile bereits jeder Zehnte seinen Job verloren hat. Der zuständige Branchenverband befürchtet bis Jahresende die Schließung der Hälfte aller Restaurants und Cafés.
Spareinlagen ja, Konsum nein
Theoretisch hat Russland beträchtliche Kapazitäten, die Wirtschaft wieder anzukurbeln: Russlands Staatsfonds ist mit über 175 Milliarden US-Dollar gut gefüllt, die Staatsverschuldung mit weniger als 20 Prozent des BIP extrem niedrig. Nicht zuletzt wegen der unsicheren Lage haben sich aufgrund reduzierten Konsums die Kontostände von Privatpersonen seit Beginn der Pandemie um knapp 50 Prozent erhöht, Bargeldbestände um knapp 30 Prozent. Doch die Bereitschaft, diese höchst liquiden Guthaben auch auszugeben, wird letztlich ausschlaggebend sein: Denn die Ankurbelung des inländischen Konsums ist das alles entscheidende Kriterium. Dieser wiederum wird von Vertrauen und Zukunftsperspektiven bestimmt: Dass die Regierung bisher nur zögerlich agiert hat, war alles andere als hilfreich. Sie wird entscheiden müssen, ob sie bereit ist, Mittel für ein Konjunkturpaket aggressiv einzusetzen. Dazu laufen diverse Maßnahmen wie geförderte Unternehmenskredite, zusätzliche Zahlungen für Familien mit kleinen Kindern, höhere Arbeitslosenunterstützung, zusätzliche Löhne für medizinisches Personal sowie ein Konkursmoratorium demnächst aus. Sergey Guriev, Professor am Institut d’études politiques de Paris (Sciences Po), meint etwa, jeder Bürger solle während der Quarantänezeit monatlich rund 275 US-Dollar vom Staat erhalten und kleine Unternehmen denselben Betrag je Beschäftigten als Lohnkostenhilfe. Ausgaben, die mit dem Staatsfonds finanziert werden könnten.
Welche Rolle spielt die Zentralbank?
Zugleich fordern führende Experten, dass sich der Staat zur Bekämpfung der Krise verschulden müsse: Staatsanleihen sollten von der Zentralbank aufgekauft werden, denn angesichts des dramatischen Rückgangs der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage hätte dies jedenfalls keine inflationstreibende Wirkung.
An anderer Front steht die Zentralbank vor einem Dilemma: Denn der jüngste Wertverlust des Rubel könnte zu einer höheren Inflation führen, womit weitere Zinssenkungen vom Tisch wären. Doch ist das Potenzial für weitere Zinssenkungen bei einem Rekordtief von 4,25 Prozent ohnehin nahezu ausgeschöpft. Auch ist zu befürchten, dass einer raschen Erholung die allseits bekannten Strukturprobleme der russischen Wirtschaft im Wege stehen: Der geringe Anteil kleiner Unternehmen bei Vorherrschaft staatlicher Großkonzerne. Wobei mit der Verschiebung der „Nationalen Projekte“, für die mehr als 350 Milliarden US-Dollar vorgesehen waren, ein weiterer Transformationsmotor fehlt, der eigentlich dazu hätte beitragen sollen, die russische Wirtschaft breiter aufzustellen. Keine leichte Aufgabe. Zumal die bisherige Politik wenig optimistisch in die Zukunft blicken lässt.
Christian Schopper ist seit mehr als drei Jahrzehnten im internationalen Beratungsgeschäft mit Fokus Corporate Finance / Investment Banking tätig. Darüber hinaus ist er Gastprofessor für Corporate Finance, Kapitalmärkte und Bankwesen an Universitäten in Russland und Österreich.
Schopper kommentiert: Russlands Finanzpolitik am Scheideweg
Noch im Juni hatte Russland unmittelbar vor dem Verfassungsreferendum den Sieg über das Coronavirus erklärt: Jetzt befindet man sich mitten in der zweiten Welle. Dadurch hat sich die Wirtschaftsdynamik abermals schlagartig verlangsamt.
Nicht nur in Moskau wurden neue Beschränkungen eingeführt, etwa Unternehmen dazu geraten, Büros abermals weitgehend zu schließen. Die Wirtschaftsdynamik hat sich abermals schlagartig verlangsamt. Ängste vor einem zweiten, potenziell verheerenden Lockdown wachsen. Noch beharren Behörden darauf, dass dies jedenfalls nicht in Sicht ist. Vorerst zumindest.
Trotz eines Verfalls der Ölpreise, eines OPEC+-Übereinkommens, das die Ölproduktion – Russlands wichtigste Einnahmequelle – drastisch reduzierte sowie einer landesweiten Quarantäne, einer der strengsten weltweit, fiel die Wirtschaft im zweiten Quartal um „nur“ 8,5 Prozent. Vor der sich nunmehr abzeichnenden zweiten Welle sagten Ökonomen für 2020 einen Rückgang um vier Prozent voraus (besser als die meisten Industrie- und Schwellenländer). Auch blieb die Inflation unter dem Zielwert der Zentralbank von vier Prozent, trotz historisch niedriger Zinssätze. Offiziell stieg die Arbeitslosigkeit lediglich um etwa zwei Prozent. Allerdings geht die Moskauer Higher School of Economics (HSE) davon aus, dass mittlerweile bereits jeder Zehnte seinen Job verloren hat. Der zuständige Branchenverband befürchtet bis Jahresende die Schließung der Hälfte aller Restaurants und Cafés.
Spareinlagen ja, Konsum nein
Theoretisch hat Russland beträchtliche Kapazitäten, die Wirtschaft wieder anzukurbeln: Russlands Staatsfonds ist mit über 175 Milliarden US-Dollar gut gefüllt, die Staatsverschuldung mit weniger als 20 Prozent des BIP extrem niedrig. Nicht zuletzt wegen der unsicheren Lage haben sich aufgrund reduzierten Konsums die Kontostände von Privatpersonen seit Beginn der Pandemie um knapp 50 Prozent erhöht, Bargeldbestände um knapp 30 Prozent. Doch die Bereitschaft, diese höchst liquiden Guthaben auch auszugeben, wird letztlich ausschlaggebend sein: Denn die Ankurbelung des inländischen Konsums ist das alles entscheidende Kriterium. Dieser wiederum wird von Vertrauen und Zukunftsperspektiven bestimmt: Dass die Regierung bisher nur zögerlich agiert hat, war alles andere als hilfreich. Sie wird entscheiden müssen, ob sie bereit ist, Mittel für ein Konjunkturpaket aggressiv einzusetzen. Dazu laufen diverse Maßnahmen wie geförderte Unternehmenskredite, zusätzliche Zahlungen für Familien mit kleinen Kindern, höhere Arbeitslosenunterstützung, zusätzliche Löhne für medizinisches Personal sowie ein Konkursmoratorium demnächst aus. Sergey Guriev, Professor am Institut d’études politiques de Paris (Sciences Po), meint etwa, jeder Bürger solle während der Quarantänezeit monatlich rund 275 US-Dollar vom Staat erhalten und kleine Unternehmen denselben Betrag je Beschäftigten als Lohnkostenhilfe. Ausgaben, die mit dem Staatsfonds finanziert werden könnten.
Welche Rolle spielt die Zentralbank?
Zugleich fordern führende Experten, dass sich der Staat zur Bekämpfung der Krise verschulden müsse: Staatsanleihen sollten von der Zentralbank aufgekauft werden, denn angesichts des dramatischen Rückgangs der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage hätte dies jedenfalls keine inflationstreibende Wirkung.
An anderer Front steht die Zentralbank vor einem Dilemma: Denn der jüngste Wertverlust des Rubel könnte zu einer höheren Inflation führen, womit weitere Zinssenkungen vom Tisch wären. Doch ist das Potenzial für weitere Zinssenkungen bei einem Rekordtief von 4,25 Prozent ohnehin nahezu ausgeschöpft. Auch ist zu befürchten, dass einer raschen Erholung die allseits bekannten Strukturprobleme der russischen Wirtschaft im Wege stehen: Der geringe Anteil kleiner Unternehmen bei Vorherrschaft staatlicher Großkonzerne. Wobei mit der Verschiebung der „Nationalen Projekte“, für die mehr als 350 Milliarden US-Dollar vorgesehen waren, ein weiterer Transformationsmotor fehlt, der eigentlich dazu hätte beitragen sollen, die russische Wirtschaft breiter aufzustellen. Keine leichte Aufgabe. Zumal die bisherige Politik wenig optimistisch in die Zukunft blicken lässt.
Christian Schopper ist seit mehr als drei Jahrzehnten im internationalen Beratungsgeschäft mit Fokus Corporate Finance / Investment Banking tätig. Darüber hinaus ist er Gastprofessor für Corporate Finance, Kapitalmärkte und Bankwesen an Universitäten in Russland und Österreich.