Hannes Farlock, Chef-Digitalisierer der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer, über Digitalisierung und Homeoffice in Corona-Zeiten.
„Ich muss leider in einen anderen Call“, oder „Von meiner Seite nichts Neues“ oder „Lassen Sie mich wissen, wenn Sie meinen Screen sehen.“ Diese oder ähnliche Sätze werden uns für lange Zeit an das Jahr 2020 erinnern. Endlose Videokonferenzen mit hochseriösen Speakern und hochseriösen Themen, bei denen wir uns manchmal ein Lachen nicht verkneifen konnten und deshalb kurz stummschalten mussten, weil diese uns aus düsteren Küchen, mit verknitterten Hemden und mit Astronauten-Headsets anschauten. Dies alles ist schon jetzt Teil unseres kollektiven Gedächtnisses. Mir haben sich vor allem Menschen vor schlecht beleuchteten Bücherregalen eingebrannt. Und Kameraperspektiven von schräg unten, die Nasenlöcher und Datscha-Naturholzdecken beleuchten.
Eine interessante Frage ist sicherlich, was wir in dieser Zeit im Bereich Digitalisierung dazugelernt haben. Ich höre oft vor allem von deutscher Seite, wie digital man nun geworden sei, und erfahre bei näherem Nachfragen, dass sich dies vor allem darauf bezieht, dass man nun wisse, wie man eine Webkonferenz einleiten bzw. einen virtuellen Hintergrund einstellen kann. Das ist nicht wenig, aber nicht genug in der neuen digitalen Welt. Firmen und Verbände stehen vor der Herausforderung mit der Zeit zu gehen oder unterzugehen.
Kurz vor der Corona-Krise im Februar hatte ich die wunderbare Gelegenheit, mit zahlreichen meiner AHK-Kollegen aus der ganzen Welt am ersten AHK-Innovationscamp im Silicon Valley teilzunehmen. Bis dato meine letzte Dienstreise. Mit einer eigenen Innovation Challenge ausgestattet, der Aufgabe, künstliche Intelligenz für Verbände anwendbar zu machen, brach ich zum ersten Mal auf nach Amerika. Innerhalb von zwei Wochen schleuste man uns über Stanford, Berkeley, LinkedIn und Facebook durch quasi alles, was Rang und Namen hat im Valley. Was mich am meisten erstaunte: Es ging viel weniger um Technologie, als ich vermutet hatte. Technologie sehen die Vordenker der neuen Zeit quasi nur als Vehikel zur Umsetzung innovativen und disruptiven Denkens, zentral sind stets Mindset, schnelle Umsetzung und das Testen erster Prototpyen direkt am und bestenfalls mit dem Kunden, das Bestehen im Markt. Diesen Prinzipien wird alles untergeordnet, relevant ist nur, was unmittelbar marktrelevant ist. Jahrelanges eigenbrödlerisches Herumdoktern an der kleinsten Kleinigkeit, wie wir Deutschen das mitunter lieben, und dabei zu spät oder schlimmstenfalls am Markt vorbei entwickeln, finden die Jungs im Valley öde.
Ich war beeindruckt von den Gesprächen, den Ideen der Menschen, wobei selbst die Taxifahrer meist schon nach kurzem Smalltalk mit mir enttäuscht verstummten als sie merkten, dass ich weder Venture-Capital-Investor noch Multistartupper war. Ich verstand, dass ich nicht aus Zufall in Russland gelandet und seit mittlerweile über zwölf Jahren in der Region lebe und arbeite. Die amerikanische Mentalität blieb mir doch etwas fremd.
Jedenfalls waren es vor allem zwei zentrale Dinge, die ich mitnahm und die unmittelbaren Einfluss auf meine Arbeit als Geschäftsführer der Dienstleistungsgesellschaft DEinternational bei der AHK in Russland hatten. Zu einem, dass Digitalisierung eben weniger mit rein technischem Sachverstand als mit der generellen Einstellung zu Veränderung jedes Einzelnen zu tun hat. Und als Schlussfolgerung daraus die Erkenntnis, dass Digitalisierungsthemen nicht nur Lippenbekenntnis des Managements und Angelegenheit der IT-Abteilungen sein sollten, sondern dass jeder Mitarbeiter Teil dieses Wandels sein muss. Das hat entscheidenden Einfluss auf die Mentalität innerhalb einer Firma oder Organisation.
Wir als AHK arbeiten seit mehr als drei Jahren nach Prinzipien des Agilen Managements. Als dann Corona kam und wir von einem auf den anderen Tag weitgehend auf Home-Office umstellten, spürte ich, dass es richtig gewesen war, diesen langen und oft holprigen Weg gegangen zu sein. Ich weiß nicht, wie viele Hunderte Male wir uns einimpften mussten, keine internen E-Mails zu schreiben, sondern nur interne Gruppenchats zu benutzen, keine Ad-Hoc-Meetings einzuberufen, strukturierte Projektretrospektiven durchzuführen und Projektmanagement ausschließlich über gemeinsame sogenannte Kanban-Boards zu steuern, die Aufgaben mit klaren Fristen und klar zugeordneter persönlicher Verantwortlichkeit sichtbar für das ganze Team digitalisiert festhalten.
Eine konsequente Strukturierung der Entscheidungsebenen, stets klar definierte Projektrollen und Verantwortlichkeiten, ein Projektmanagement in sich wiederholenden Schleifen, sogenannte „Sprints“ – diese Prinzipien verbunden mit den richtigen technischen Tools halfen uns ohne großen Produktivitätsverlust ab April für einige Wochen in den Home-Office-Modus umzuschalten. Das gab uns entsprechend Luft, relativ schnell in die nächste Phase der Digitalisierung der Kammer mit eigenen Digital-Services einzusteigen. Mittlerweile haben wir unsere eigene virtuelle Eventplattform entwickelt, über die wir alle unsere großen Events und Konferenzen abwickeln.
Die Plattform ermöglicht mehr Interaktion als klassische Webkonferenzsysteme mit erweiterten Design- und Brandingmöglichkeiten, Matchmaking, Umfragen und interaktiven Contests. Das Ganze wird komplettiert durch unsere AHK-Studios in Moskau, Berlin und Sankt Petersburg, aus denen wir mit professioneller Video-Technik im Fernsehformat streamen können. Manches lief am Anfang holprig. Wie könnte es bei Neuentwicklungen auch anders sein. Im direkten Dialog mit unseren Mitgliedern, Kunden und dem Markt lernen wir ständig dazu. Mittlerweile führen wir über die AHK-Plattform auch virtuelle Events für externe Kunden durch, mit wachsendem Erfolg.
Intern haben wir dafür ein Training-Programm gestartet, rund um unsere „AHK Digital Scouts“. Mindestens ein Mitarbeiter pro Abteilung, insgesamt 17 Leute, bilden wir an den digitalen Tools aus – so wie Mitarbeiter vor Jahrzehnten gelernt haben, Schreibmaschine zu schreiben, mit den ersten Computern umzugehen und E-Mails zu schreiben.
Dadurch hat sich auch das Verständnis der internen „Service Delivery“ in unserer Organisation geändert. Früher gab es kein klares Erwartungsmanagement an die Mitarbeiter in Bezug auf Digitalisierung und Prozessmanagement. Das hat sich geändert, interne Service-Level-Agreements wurden entsprechend angepasst, Arbeitsverträge um entsprechende Anforderungen im Digitalbereich ergänzt. Während früher die IT-Kollegen die meiste Zeit im Pull-Verfahren damit beschäftigt waren, simple IT-Probleme der Kollegen zu lösen, stellen wir Mitarbeitern nun strukturierte Informationen zur Verfügung, um Probleme selber zu lösen.
Wichtig ist, alle Mitarbeiter mitzunehmen, denn insgesamt innovativer und digitaler zu sein, erfordert langfristig einen Mentalitätswandel in der gesamten Organisation. Das heißt im konsequenten Umkehrschluss und im Silicon-Valley-Sprech aber auch: “There is going to be the times when we can’t wait for somebody. Now, you are either on the bus or off the bus.” (Ken Kesey, amerikanischer Schriftsteller und Aktionskünstler)
Den russischen Kollegen fällt der Wandel meist leichter als uns Deutschen. Ich habe oft den Eindruck, dass man mit der fortschreitenden und weit in den persönlichen Bereich hineinreichenden Digitalisierung in Russland viel selbstverständlicher umgeht als in Deutschland.
Zurück zu den virtuellen Konferenzerfahrungen. Meine absolute Lieblingsanekdote jedenfalls war ein Speaker auf einer unserer Konferenzen, bei dem kurz vor seinem Auftritt der Ton versagte. Den Tipp meiner Kollegin, doch rein- und wieder rauszugehen (Zoom, was sonst), nahm er wörtlich, ging kurz aus dem Zimmer, kam wieder zurück, setzte sich erneut vor den Computer und wunderte sich, dass der Sound immer noch nicht funktionierte. Das Ganze passierte ein weiteres Mal, bis er aufgab und den Rest der dreistündigen Konferenz –
ohne ein Wort, das gesprochen wurde, zu verstehen – mit Expertenmine vor der Kamera saß. Es war ein Deutscher.
Hannes Farlock, Geschäftsführer von DEInternational, dem kommerziellen Arm der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer (AHK).
Digitalisierung: „Bin ich zu hören?“
Hannes Farlock, Chef-Digitalisierer der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer, über Digitalisierung und Homeoffice in Corona-Zeiten.
„Ich muss leider in einen anderen Call“, oder „Von meiner Seite nichts Neues“ oder „Lassen Sie mich wissen, wenn Sie meinen Screen sehen.“ Diese oder ähnliche Sätze werden uns für lange Zeit an das Jahr 2020 erinnern. Endlose Videokonferenzen mit hochseriösen Speakern und hochseriösen Themen, bei denen wir uns manchmal ein Lachen nicht verkneifen konnten und deshalb kurz stummschalten mussten, weil diese uns aus düsteren Küchen, mit verknitterten Hemden und mit Astronauten-Headsets anschauten. Dies alles ist schon jetzt Teil unseres kollektiven Gedächtnisses. Mir haben sich vor allem Menschen vor schlecht beleuchteten Bücherregalen eingebrannt. Und Kameraperspektiven von schräg unten, die Nasenlöcher und Datscha-Naturholzdecken beleuchten.
Eine interessante Frage ist sicherlich, was wir in dieser Zeit im Bereich Digitalisierung dazugelernt haben. Ich höre oft vor allem von deutscher Seite, wie digital man nun geworden sei, und erfahre bei näherem Nachfragen, dass sich dies vor allem darauf bezieht, dass man nun wisse, wie man eine Webkonferenz einleiten bzw. einen virtuellen Hintergrund einstellen kann. Das ist nicht wenig, aber nicht genug in der neuen digitalen Welt. Firmen und Verbände stehen vor der Herausforderung mit der Zeit zu gehen oder unterzugehen.
Kurz vor der Corona-Krise im Februar hatte ich die wunderbare Gelegenheit, mit zahlreichen meiner AHK-Kollegen aus der ganzen Welt am ersten AHK-Innovationscamp im Silicon Valley teilzunehmen. Bis dato meine letzte Dienstreise. Mit einer eigenen Innovation Challenge ausgestattet, der Aufgabe, künstliche Intelligenz für Verbände anwendbar zu machen, brach ich zum ersten Mal auf nach Amerika. Innerhalb von zwei Wochen schleuste man uns über Stanford, Berkeley, LinkedIn und Facebook durch quasi alles, was Rang und Namen hat im Valley. Was mich am meisten erstaunte: Es ging viel weniger um Technologie, als ich vermutet hatte. Technologie sehen die Vordenker der neuen Zeit quasi nur als Vehikel zur Umsetzung innovativen und disruptiven Denkens, zentral sind stets Mindset, schnelle Umsetzung und das Testen erster Prototpyen direkt am und bestenfalls mit dem Kunden, das Bestehen im Markt. Diesen Prinzipien wird alles untergeordnet, relevant ist nur, was unmittelbar marktrelevant ist. Jahrelanges eigenbrödlerisches Herumdoktern an der kleinsten Kleinigkeit, wie wir Deutschen das mitunter lieben, und dabei zu spät oder schlimmstenfalls am Markt vorbei entwickeln, finden die Jungs im Valley öde.
Ich war beeindruckt von den Gesprächen, den Ideen der Menschen, wobei selbst die Taxifahrer meist schon nach kurzem Smalltalk mit mir enttäuscht verstummten als sie merkten, dass ich weder Venture-Capital-Investor noch Multistartupper war. Ich verstand, dass ich nicht aus Zufall in Russland gelandet und seit mittlerweile über zwölf Jahren in der Region lebe und arbeite. Die amerikanische Mentalität blieb mir doch etwas fremd.
Jedenfalls waren es vor allem zwei zentrale Dinge, die ich mitnahm und die unmittelbaren Einfluss auf meine Arbeit als Geschäftsführer der Dienstleistungsgesellschaft DEinternational bei der AHK in Russland hatten. Zu einem, dass Digitalisierung eben weniger mit rein technischem Sachverstand als mit der generellen Einstellung zu Veränderung jedes Einzelnen zu tun hat. Und als Schlussfolgerung daraus die Erkenntnis, dass Digitalisierungsthemen nicht nur Lippenbekenntnis des Managements und Angelegenheit der IT-Abteilungen sein sollten, sondern dass jeder Mitarbeiter Teil dieses Wandels sein muss. Das hat entscheidenden Einfluss auf die Mentalität innerhalb einer Firma oder Organisation.
Wir als AHK arbeiten seit mehr als drei Jahren nach Prinzipien des Agilen Managements. Als dann Corona kam und wir von einem auf den anderen Tag weitgehend auf Home-Office umstellten, spürte ich, dass es richtig gewesen war, diesen langen und oft holprigen Weg gegangen zu sein. Ich weiß nicht, wie viele Hunderte Male wir uns einimpften mussten, keine internen E-Mails zu schreiben, sondern nur interne Gruppenchats zu benutzen, keine Ad-Hoc-Meetings einzuberufen, strukturierte Projektretrospektiven durchzuführen und Projektmanagement ausschließlich über gemeinsame sogenannte Kanban-Boards zu steuern, die Aufgaben mit klaren Fristen und klar zugeordneter persönlicher Verantwortlichkeit sichtbar für das ganze Team digitalisiert festhalten.
Eine konsequente Strukturierung der Entscheidungsebenen, stets klar definierte Projektrollen und Verantwortlichkeiten, ein Projektmanagement in sich wiederholenden Schleifen, sogenannte „Sprints“ – diese Prinzipien verbunden mit den richtigen technischen Tools halfen uns ohne großen Produktivitätsverlust ab April für einige Wochen in den Home-Office-Modus umzuschalten. Das gab uns entsprechend Luft, relativ schnell in die nächste Phase der Digitalisierung der Kammer mit eigenen Digital-Services einzusteigen. Mittlerweile haben wir unsere eigene virtuelle Eventplattform entwickelt, über die wir alle unsere großen Events und Konferenzen abwickeln.
Die Plattform ermöglicht mehr Interaktion als klassische Webkonferenzsysteme mit erweiterten Design- und Brandingmöglichkeiten, Matchmaking, Umfragen und interaktiven Contests. Das Ganze wird komplettiert durch unsere AHK-Studios in Moskau, Berlin und Sankt Petersburg, aus denen wir mit professioneller Video-Technik im Fernsehformat streamen können. Manches lief am Anfang holprig. Wie könnte es bei Neuentwicklungen auch anders sein. Im direkten Dialog mit unseren Mitgliedern, Kunden und dem Markt lernen wir ständig dazu. Mittlerweile führen wir über die AHK-Plattform auch virtuelle Events für externe Kunden durch, mit wachsendem Erfolg.
Intern haben wir dafür ein Training-Programm gestartet, rund um unsere „AHK Digital Scouts“. Mindestens ein Mitarbeiter pro Abteilung, insgesamt 17 Leute, bilden wir an den digitalen Tools aus – so wie Mitarbeiter vor Jahrzehnten gelernt haben, Schreibmaschine zu schreiben, mit den ersten Computern umzugehen und E-Mails zu schreiben.
Dadurch hat sich auch das Verständnis der internen „Service Delivery“ in unserer Organisation geändert. Früher gab es kein klares Erwartungsmanagement an die Mitarbeiter in Bezug auf Digitalisierung und Prozessmanagement. Das hat sich geändert, interne Service-Level-Agreements wurden entsprechend angepasst, Arbeitsverträge um entsprechende Anforderungen im Digitalbereich ergänzt. Während früher die IT-Kollegen die meiste Zeit im Pull-Verfahren damit beschäftigt waren, simple IT-Probleme der Kollegen zu lösen, stellen wir Mitarbeitern nun strukturierte Informationen zur Verfügung, um Probleme selber zu lösen.
Wichtig ist, alle Mitarbeiter mitzunehmen, denn insgesamt innovativer und digitaler zu sein, erfordert langfristig einen Mentalitätswandel in der gesamten Organisation. Das heißt im konsequenten Umkehrschluss und im Silicon-Valley-Sprech aber auch: “There is going to be the times when we can’t wait for somebody. Now, you are either on the bus or off the bus.” (Ken Kesey, amerikanischer Schriftsteller und Aktionskünstler)
Den russischen Kollegen fällt der Wandel meist leichter als uns Deutschen. Ich habe oft den Eindruck, dass man mit der fortschreitenden und weit in den persönlichen Bereich hineinreichenden Digitalisierung in Russland viel selbstverständlicher umgeht als in Deutschland.
Zurück zu den virtuellen Konferenzerfahrungen. Meine absolute Lieblingsanekdote jedenfalls war ein Speaker auf einer unserer Konferenzen, bei dem kurz vor seinem Auftritt der Ton versagte. Den Tipp meiner Kollegin, doch rein- und wieder rauszugehen (Zoom, was sonst), nahm er wörtlich, ging kurz aus dem Zimmer, kam wieder zurück, setzte sich erneut vor den Computer und wunderte sich, dass der Sound immer noch nicht funktionierte. Das Ganze passierte ein weiteres Mal, bis er aufgab und den Rest der dreistündigen Konferenz –
ohne ein Wort, das gesprochen wurde, zu verstehen – mit Expertenmine vor der Kamera saß. Es war ein Deutscher.
Hannes Farlock, Geschäftsführer von DEInternational, dem kommerziellen Arm der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer (AHK).
Dieser Beitrag ist erstmal im Deutsch-Russischen Wirtschaftsjahrbuch 2020/21 erschienen.