Seit September 2020 sind in Russland mehrere Wirtschaftsprognosen für das kommende Jahr veröffentlicht worden – und sie sind so widersprüchlich wie selten zuvor.
An den Aussichten auf einen Konjunkturaufschwung scheiden sich die Geister. Die Spannbreite der Wirtschaftsprognosen lässt sich durch eine enorm hohe Unsicherheit erklären. Diese ist offensichtlich nicht allein auf die Ungewissheit bezüglich des Erfolges der Corona-Impfkampagne in Russland mit ihren klaren Auswirkungen auf wirtschaftliche Aktivitäten zurückzuführen, sondern auch auf eine ebenso hohe Unsicherheit bezüglich der Bekämpfung der Pandemie im Westen, der Wirtschafts- und Umweltpolitik der Vereinigten Staaten nach dem bevorstehenden Machtwechsel im Januar sowie einer möglichen Wiederbelebung der Investitionsausgaben in China. Alles Faktoren, die unmittelbar eine Wiederbelebung der Weltwirtschaft bewirken und mit ihrem entscheidenden Einfluss auf den Rohölpreis auch die russische Volkswirtschaft stark beeinflussen könnten.
Die vom russischen Wirtschaftsministerium Ende September vorgestellte Wirtschaftsprognose von mindestens 3,3 Prozent Wachstum im Jahre 2021 im Basisszenario erschien vielen als allzu optimistisch und wurde anschließend von mehreren Seiten (Rechnungshof, Wirtschaftsausschuss der Duma, Konjunkturforscher) als unrealistisch kritisiert. Als primäre Quelle des vorhergesagten Wachstums des russischen BIP wurde dabei die Stärkung der aggregierten Nachfrage der russischen Wirtschaft genannt.
Stattdessen hatte der Rechnungshof gemeinsam mit dem Gaidar-Institut in einem Ende Oktober veröffentlichten Bericht eine Wirtschaftswachstumsrate von höchstens drei Prozent prophezeit. Als ausschlaggebender Grund für diese konservativere Einschätzung wurde von den Experten die dem Wirtschaftsministerium vorgeworfene Überbewertung der Erfolge der nationalen Maßnahmen zu Konjunkturbelebung und damit weitaus schwächere erwartete Ausweitung der aggregierten Nachfrage genannt. Weitere im Bericht erwähnte Schlüsselrisiken sind zunehmende Arbeitslosigkeit sowie Sorgen vor einer möglichen Insolvenzkrise aufgrund der in Russland und weltweit immer steigenden Schuldenlast im privaten und im öffentlichen Sektor.
Auch die bereits im Oktober vorgelegten Prognosen der russischen Zentralbank sind im Bezug auf Wachstumsraten des BIP in den kommenden Jahren (kaum über drei Prozent jährlich) als relativ skeptisch einzustufen. Dabei hat sich die Prognose der Zentralbank über die Preisstabilität von der zunächst geschätzten Verringerung der Inflationsrate zu einer Steigerung der Inflationsrate oberhalb der Zielgröße von vier Prozent geändert, was sich auch in den Entscheidungen der letzten Monate, den Leitzins nicht weiter zu senken, widergespiegelt hat.
Ein Ende November erschienener Bericht der russischen Ratingagentur ACRA sieht dagegen deutlich optimistischer aus: Die Agentur hat ihre eigene ursprüngliche Prognose von 2,2 Prozent Wirtschaftswachstum auf sage und schreibe 3,8 Prozent nach oben korrigiert. Bei der Begründung dieser unerwartet zuversichtlichen Einschätzung beruft sich ACRA darauf, dass die im Laufe der zweiten Corona-Welle eingeführten Beschränkungen in Russland deutlich milder ausgefallen sind als dies noch vor ein paar Monaten zu erwarten gewesen wäre. Dies soll insbesondere zu einer Wiederbelebung der zuvor durch die Rezession besonders stark betroffenen Dienstleistungsbranche führen.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass alle vorgelegten Prognosen unabhängig von ihren quantitativen Ausprägungen ähnliche Gründe für das Wachstum der russischen Wirtschaftsleistung in den kommenden Jahren identifizieren: Für eine BIP-Erhöhung in den Jahren 2021 bis 2023 sollen Faktoren wie die Erhöhung der Staatsausgaben und Transfers zwecks Fiskalstimulierung sowie die erwartete Stärkung der Kaufkraft im Konsumwarensektor verantwortlich sein. Doch unter den gegebenen Bedingungen der russischen Wirtschaft können diese Faktoren lediglich eine kurzfristige Wirkung erzeugen.
Mittelfristig kann dagegen eine jährliche Wachstumsrate des russischen BIP oberhalb von drei Prozent nur dann erreicht werden, wenn es zu einem entscheidenden Durchbruch im Bereich der privaten Investitionen mit einem anschließend beschleunigten Aufbau des Kapitalstocks und der sich daraus ergebenden Erhöhung der Gesamtfaktorproduktivität kommt. Die Erfüllung dieser Bedingung hängt aber wesentlich davon ab, wie die Wirtschaftspolitik der russischen Regierung den Aufbau des Humankapitals – insbesondere im Gesundheitswesen und im öffentlichen Bildungswesen – und den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur verstärkt fördern wird und inwiefern stärkere Anreize für technologiefördernde private Unternehmen geschaffen werden.
Ilja Neustadt, Dr. oec. publ., Associate Professor an der Präsidenten-Akademie RANEPA in Moskau (Russian Academy for National Economy and Public Administration)
Neustadt kommentiert: Wirtschaftsaufschwung in Sicht?
Seit September 2020 sind in Russland mehrere Wirtschaftsprognosen für das kommende Jahr veröffentlicht worden – und sie sind so widersprüchlich wie selten zuvor.
An den Aussichten auf einen Konjunkturaufschwung scheiden sich die Geister. Die Spannbreite der Wirtschaftsprognosen lässt sich durch eine enorm hohe Unsicherheit erklären. Diese ist offensichtlich nicht allein auf die Ungewissheit bezüglich des Erfolges der Corona-Impfkampagne in Russland mit ihren klaren Auswirkungen auf wirtschaftliche Aktivitäten zurückzuführen, sondern auch auf eine ebenso hohe Unsicherheit bezüglich der Bekämpfung der Pandemie im Westen, der Wirtschafts- und Umweltpolitik der Vereinigten Staaten nach dem bevorstehenden Machtwechsel im Januar sowie einer möglichen Wiederbelebung der Investitionsausgaben in China. Alles Faktoren, die unmittelbar eine Wiederbelebung der Weltwirtschaft bewirken und mit ihrem entscheidenden Einfluss auf den Rohölpreis auch die russische Volkswirtschaft stark beeinflussen könnten.
Die vom russischen Wirtschaftsministerium Ende September vorgestellte Wirtschaftsprognose von mindestens 3,3 Prozent Wachstum im Jahre 2021 im Basisszenario erschien vielen als allzu optimistisch und wurde anschließend von mehreren Seiten (Rechnungshof, Wirtschaftsausschuss der Duma, Konjunkturforscher) als unrealistisch kritisiert. Als primäre Quelle des vorhergesagten Wachstums des russischen BIP wurde dabei die Stärkung der aggregierten Nachfrage der russischen Wirtschaft genannt.
Stattdessen hatte der Rechnungshof gemeinsam mit dem Gaidar-Institut in einem Ende Oktober veröffentlichten Bericht eine Wirtschaftswachstumsrate von höchstens drei Prozent prophezeit. Als ausschlaggebender Grund für diese konservativere Einschätzung wurde von den Experten die dem Wirtschaftsministerium vorgeworfene Überbewertung der Erfolge der nationalen Maßnahmen zu Konjunkturbelebung und damit weitaus schwächere erwartete Ausweitung der aggregierten Nachfrage genannt. Weitere im Bericht erwähnte Schlüsselrisiken sind zunehmende Arbeitslosigkeit sowie Sorgen vor einer möglichen Insolvenzkrise aufgrund der in Russland und weltweit immer steigenden Schuldenlast im privaten und im öffentlichen Sektor.
Auch die bereits im Oktober vorgelegten Prognosen der russischen Zentralbank sind im Bezug auf Wachstumsraten des BIP in den kommenden Jahren (kaum über drei Prozent jährlich) als relativ skeptisch einzustufen. Dabei hat sich die Prognose der Zentralbank über die Preisstabilität von der zunächst geschätzten Verringerung der Inflationsrate zu einer Steigerung der Inflationsrate oberhalb der Zielgröße von vier Prozent geändert, was sich auch in den Entscheidungen der letzten Monate, den Leitzins nicht weiter zu senken, widergespiegelt hat.
Ein Ende November erschienener Bericht der russischen Ratingagentur ACRA sieht dagegen deutlich optimistischer aus: Die Agentur hat ihre eigene ursprüngliche Prognose von 2,2 Prozent Wirtschaftswachstum auf sage und schreibe 3,8 Prozent nach oben korrigiert. Bei der Begründung dieser unerwartet zuversichtlichen Einschätzung beruft sich ACRA darauf, dass die im Laufe der zweiten Corona-Welle eingeführten Beschränkungen in Russland deutlich milder ausgefallen sind als dies noch vor ein paar Monaten zu erwarten gewesen wäre. Dies soll insbesondere zu einer Wiederbelebung der zuvor durch die Rezession besonders stark betroffenen Dienstleistungsbranche führen.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass alle vorgelegten Prognosen unabhängig von ihren quantitativen Ausprägungen ähnliche Gründe für das Wachstum der russischen Wirtschaftsleistung in den kommenden Jahren identifizieren: Für eine BIP-Erhöhung in den Jahren 2021 bis 2023 sollen Faktoren wie die Erhöhung der Staatsausgaben und Transfers zwecks Fiskalstimulierung sowie die erwartete Stärkung der Kaufkraft im Konsumwarensektor verantwortlich sein. Doch unter den gegebenen Bedingungen der russischen Wirtschaft können diese Faktoren lediglich eine kurzfristige Wirkung erzeugen.
Mittelfristig kann dagegen eine jährliche Wachstumsrate des russischen BIP oberhalb von drei Prozent nur dann erreicht werden, wenn es zu einem entscheidenden Durchbruch im Bereich der privaten Investitionen mit einem anschließend beschleunigten Aufbau des Kapitalstocks und der sich daraus ergebenden Erhöhung der Gesamtfaktorproduktivität kommt. Die Erfüllung dieser Bedingung hängt aber wesentlich davon ab, wie die Wirtschaftspolitik der russischen Regierung den Aufbau des Humankapitals – insbesondere im Gesundheitswesen und im öffentlichen Bildungswesen – und den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur verstärkt fördern wird und inwiefern stärkere Anreize für technologiefördernde private Unternehmen geschaffen werden.
Ilja Neustadt, Dr. oec. publ., Associate Professor an der Präsidenten-Akademie RANEPA in Moskau (Russian Academy for National Economy and Public Administration)