Die Coronakrise macht die Automobilindustrie noch abhängiger vom chinesischen Markt. Dort investieren auch deutsche Premiumhersteller in digitale Kompetenz für vernetzte Elektrofahrzeuge. Unterdessen könnten bald mehr chinesische Wettbewerber in Deutschland vorfahren.
Prof. Stefan Bratzel singt im Auto Karaoke. Damit nimmt der Gründer und Direktor des unabhängigen Forschungsinstituts Center of Automotive Management (CAM) an der Fachhochschule der Wirtschaft in Bergisch Gladbach auf deutschen Straßen einen Trend vorweg, der sich in China rasend schnell ausbreitet. Mit dieser Entwicklung beschäftigt sich bei Mercedes-Benz in Stuttgart auch Marcel Glemser: „Das chinesische Volk ist sehr verspielt und digital“, beobachtet der Experte für Global Market Intelligence Digitalization & eDrive. Chinesen wollten beim zunehmend autonomen Fahren nicht nur Karaoke singen, sondern auch Videos streamen, spieltypische Elemente anwenden (Gamification) und künstliche Intelligenz (Artifical Intelligence, AI) nutzen. In den Elektroautos des Shanghaier Herstellers NIO sitzt beispielsweise mit dem eingebauten AI-System NOMI ein virtueller Beifahrer.
„Mit MBUX und ‚Hey Mercedes‘ haben wir ebenfalls einen Sprachassistenten, der die Gewohnheiten des Nutzers lernt und situationsgerecht reagiert“, sagt Glemser. Das entwickeln die Stuttgarter kontinuierlich weiter, damit im Zeitalter der Elektromobilität die Marge nicht schrumpft. Durch digitale Services ergeben sich laut Glemser „komplett neue Geschäftsfelder, die über eine Monetisierung den heute noch teuren elektrischen Antriebsstrang sowie entfallende After-Sales-Services kompensieren können“.
E-Mobilität: Herausforderungen durch branchenfremde Wettbewerber Bratzel durchleuchtet auf Basis empirischer Studien die Innovationstrends der Automobilbranche. Dabei schaut er verstärkt nach China, dem mit Abstand wichtigsten Einzelmarkt für die deutschen Konzerne Volkswagen (inklusive dessen Töchter Audi und Porsche), Daimler und BMW. Während das Thema Elektrifizierung für die nächsten zehn Jahre aus Sicht von Bratzel „gesetzt“ ist, liegen die größeren Veränderungen der Branche „in der Vernetzung des autonomen Fahrens und den damit zusammenhängenden Dienstleistungen“.
Der Professor bringt das auf die Formel „Mobilität der Zukunft gleich Software mal Dienstleistung im Quadrat“ (M=S×D2): „Die zentralen Wertschöpfungselemente der Zukunft werden im Bereich Softwaredaten und damit zusammenhängender vernetzter Dienstleistungen sein“, erklärt er. Dabei sieht er etablierte Fahrzeughersteller zunehmend durch branchenfremde Wettbewerber herausgefordert. In China zählt Bratzel den Fahrdienstleister Didi Chuxing Technology sowie das Internetunternehmen Tencent, die Suchmaschine Baidu oder die B2B-Plattform Alibaba dazu. Der Forscher sagt in den nächsten zehn bis 15 Jahren einen „leisen Urknall“ im „Universum“ der Automobilwirtschaft voraus – und dabei spielen seiner Meinung nach chinesische Big-Data-Anbieter eine gewichtige Rolle.
„Die zentralen Wertschöpfungselemente der Zukunft werden im Bereich Softwaredaten und damit zusammenhängender vernetzter Dienstleistungen sein.“
Prof. Stefan Bratzel, Gründer und Direktor des Center of Automotive Management (CAM)
Den Weg bereiten wird das 14. Fünfjahresprogramm 2021 bis 2025, das die chinesische Regierung im März verabschiedet. Willi Li, Representative & Managing Director bei dem Automobillogistiker BLG China in Shanghai, meint: „Als Schwerpunkt des neuen Fünfjahresplans wird die Regierung die elektrifizierte, intelligente und vernetzte Autoindustrie definitiv mit Einführung von finanziellen und politischen Maßnahmen stark unterstützen.“ Der Branchenkenner bemerkt „den klaren Trend“, dass die chinesische Autoindustrie – in enger Kooperation mit führenden Internet- und Hightechunternehmen – Schlüsselkomponenten und Techniken wie 5G, Software, Chips, Vernetzung „wesentlich ausbaut“.
Als Tochterfirma von BLG Logistics in Bremen bietet BLG China Logistiklösungen für den chinesischen Automobilmarkt an, inklusive Technikzentren und Teilelogistik. Li beziffert die nationalen Pkw-Verkaufszahlen für 2020 mit 19,3 Millionen Fahrzeugen – und damit 6,8 Prozent weniger als im Vorjahr, das sei „ganz klar pandemiebedingt“. Seit Mai 2020 habe sich die Automobilindustrie in China aber „stetig und teilweise stark erholt“. Aufgrund der geringen Verkäufe im Coronajahr hält er ein Wachstum des chinesischen Automobilmarktes im Jahr 2021 gegenüber dem Vorjahr für „nahezu sicher“. Vor allem bei deutschen Premiumherstellern erwartet Li nach zuletzt teilweise zweistelligem Absatzwachstum wie bei Daimler (plus 11,7 Prozent), dass sich dieser Trend fortsetzt.
Das sieht auch Glemser von Mercedes-Benz so: „China ist Wachstumsmotor der Automobilindustrie mit fast 50 Prozent des weltweiten Volumens und eine Stütze anderer Märkte.“ Margenträchtige Oberklassefahrzeuge stehen bei den markenbewussten Chinesen nach wie vor hoch im Kurs – „Mercedes bleibt Mercedes“, weiß Glemser. Hersteller dürfen sich aber nicht den Luxus leisten, sich darauf auszuruhen. Deshalb habe es bei deutschen OEMs längst auch digital und im Bereich Innovationen „klick“ gemacht, findet er und nennt als Beispiel das geplante eigene Betriebssystem Mercedes-Benz Operating System (MBOS) oder iDrive, das Bedienkonzept des Infotainmentsystems von BMW.
Problematisch: Wachsende Abhängigkeit und bestehende Überkapazitäten Audi gründet bis Ende März in Changchun das Joint Venture (JV) Premium Platform Electric (PPD) für den Bau von vollelektrischen Oberklasse-Autos. Die ersten chinesischen E-Audis sollen 2024 vom Band rollen. Das JV komme zwar spät, meint Prof. Stefan Reindl, wissenschaftlicher Direktor und CEO des Instituts für Automobilwirtschaft in Geislingen/Steige, „aber wohl noch rechtzeitig, um gerade im Premiumbereich neue Pfade zu beschreiten“. Denn in diesem Marktsegment seien die chinesischen Automobilhersteller selbst noch recht verhalten im Markt vertreten. „Insofern ist es für den Volkswagen-Konzern insgesamt sinnvoll, dass sich gerade Audi dort mit diesem Projekt positioniert.“
Die mittlerweile große und wachsende Abhängigkeit von China findet Reindl aber „nicht unproblematisch“ für die premiumorientierte Automobilwirtschaft, „denn etwaige Markteinbrüche könnten zu einem ruinösen Unterfangen hierzulande führen“. Die politischen Entscheidungsträger in China neigten mitunter auch unvermittelt zu unberechenbaren Reaktionen, beispielsweise Einfuhrbeschränkungen, um die eigene Wirtschaft zu schützen. Andererseits sichert die Abhängigkeit vom größten Automobilmarkt der Welt aktuell in der Coronakrise Arbeitsplätze bei Herstellern, Zulieferern und Logistikdienstleistern.
Doch Prof. Dirk Hartel, der den Studiengang BWL-Dienstleistungsmanagement / Logistik- und Supply-Chain-Management an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart leitet, weist auf ein strukturelles Problem hin: „Die europäische Automobilwirtschaft verfügt nach wie vor über signifikante Überkapazitäten, sowohl in Management und Verwaltung als auch in der Produktion.“ Daran werden die Wachstumsraten in China nichts ändern. Sorge bereiten Hartel zudem pandemiebedingte Verwerfungen in der Lieferkette. Sein Beispiel ist der Engpass bei asiatischen Halbleiterherstellern, „der zunächst bei Mercedes-Benz und VW im Dezember 2020 und bei Audi Mitte Januar 2021 auftrat und dazu führte, dass über 10.000 Mitarbeiter in Ingolstadt und Neckarsulm bis Ende Januar in Kurzarbeit gehen sollten“.
Als Studiendekan an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt in Geislingen/Steige berät Reindl auch Unternehmen der Automobil- und Mobilitätsbranche. Für China empfiehlt er, nachhaltig flexible Strukturen im Hinblick auf die Produktion zu etablieren, um bei plötzlich auftretenden Nachfragerückgängen oder -einbrüchen möglichst schnell reagieren zu können. Solche „Rückfallstrategien“ könnten dann die Auswirkungen abfedern, wenn auch nicht gänzlich abwenden.
„Die europäische Automobilwirtschaft verfügt nach wie vor über signifikante Überkapazitäten, sowohl in Management und Verwaltung als auch in der Produktion.“
Prof. Dirk Hartel, Leiter des Studiengangs BWL-Dienstleistungsmanagement / Logistik- und Supply-Chain-Management an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart
Während Audi, Mercedes & Co neue Beschaffungsstrategien in Richtung Dual Sourcing implementieren, müssen nach Meinung von CAM-Direktor Bratzel „gerade Premiumhersteller“ ihre Wertschöpfung erhöhen. Strategische Kooperationen und Joint Ventures mit Zulieferern hält er für den richtigen Weg, um bei innovativen Technologien an Fahrt zu gewinnen. Große deutsche Systemlieferanten wie Bosch, Continental oder ZF seien in Zukunftsfeldern zwar erfolgreich und würden immer wichtiger. Aber im Vergleich zu China hält Bratzel Deutschland für „ein digitales Entwicklungsland“, in ganz Europa fehlten „im Umfeld Vernetzung/Software“ wichtige Kompetenzen. Deshalb spricht er von einem „chinesischen Jahrhundert der Automobilität“.
Trotz ihres riesigen Binnenmarktes wollen die Chinesen in der Automobilindustrie aber nicht nur im eigenen Land am Steuer sitzen. Der Fokus habe sich vom heimischen Markt auf eine globale Präsenz chinesischer Anbieter verschoben, beobachtet Reindl. Tatsächlich sind auch auf deutschen Straßen schon Autos made in China unterwegs: Volvos des chinesischen Geely-Konzerns oder Elektroautos der Marke Polestar vom JV Volvo/Geely. Bratzel rechnet in den nächsten zehn Jahren auf dem deutschen Markt mit weiteren Anbietern aus der Volksrepublik. Gut möglich, dass er dann in einem dieser Modelle Karaoke singt statt wie heute in seinem US-amerikanischen E-Fahrzeug.
Chinesen wollen Spaß und geben Gas
Die Coronakrise macht die Automobilindustrie noch abhängiger vom chinesischen Markt. Dort investieren auch deutsche Premiumhersteller in digitale Kompetenz für vernetzte Elektrofahrzeuge. Unterdessen könnten bald mehr chinesische Wettbewerber in Deutschland vorfahren.
Prof. Stefan Bratzel singt im Auto Karaoke. Damit nimmt der Gründer und Direktor des unabhängigen Forschungsinstituts Center of Automotive Management (CAM) an der Fachhochschule der Wirtschaft in Bergisch Gladbach auf deutschen Straßen einen Trend vorweg, der sich in China rasend schnell ausbreitet. Mit dieser Entwicklung beschäftigt sich bei Mercedes-Benz in Stuttgart auch Marcel Glemser: „Das chinesische Volk ist sehr verspielt und digital“, beobachtet der Experte für Global Market Intelligence Digitalization & eDrive. Chinesen wollten beim zunehmend autonomen Fahren nicht nur Karaoke singen, sondern auch Videos streamen, spieltypische Elemente anwenden (Gamification) und künstliche Intelligenz (Artifical Intelligence, AI) nutzen. In den Elektroautos des Shanghaier Herstellers NIO sitzt beispielsweise mit dem eingebauten AI-System NOMI ein virtueller Beifahrer.
„Mit MBUX und ‚Hey Mercedes‘ haben wir ebenfalls einen Sprachassistenten, der die Gewohnheiten des Nutzers lernt und situationsgerecht reagiert“, sagt Glemser. Das entwickeln die Stuttgarter kontinuierlich weiter, damit im Zeitalter der Elektromobilität die Marge nicht schrumpft. Durch digitale Services ergeben sich laut Glemser „komplett neue Geschäftsfelder, die über eine Monetisierung den heute noch teuren elektrischen Antriebsstrang sowie entfallende After-Sales-Services kompensieren können“.
E-Mobilität: Herausforderungen durch branchenfremde Wettbewerber
Bratzel durchleuchtet auf Basis empirischer Studien die Innovationstrends der Automobilbranche. Dabei schaut er verstärkt nach China, dem mit Abstand wichtigsten Einzelmarkt für die deutschen Konzerne Volkswagen (inklusive dessen Töchter Audi und Porsche), Daimler und BMW. Während das Thema Elektrifizierung für die nächsten zehn Jahre aus Sicht von Bratzel „gesetzt“ ist, liegen die größeren Veränderungen der Branche „in der Vernetzung des autonomen Fahrens und den damit zusammenhängenden Dienstleistungen“.
Der Professor bringt das auf die Formel „Mobilität der Zukunft gleich Software mal Dienstleistung im Quadrat“ (M=S×D2): „Die zentralen Wertschöpfungselemente der Zukunft werden im Bereich Softwaredaten und damit zusammenhängender vernetzter Dienstleistungen sein“, erklärt er. Dabei sieht er etablierte Fahrzeughersteller zunehmend durch branchenfremde Wettbewerber herausgefordert. In China zählt Bratzel den Fahrdienstleister Didi Chuxing Technology sowie das Internetunternehmen Tencent, die Suchmaschine Baidu oder die B2B-Plattform Alibaba dazu. Der Forscher sagt in den nächsten zehn bis 15 Jahren einen „leisen Urknall“ im „Universum“ der Automobilwirtschaft voraus – und dabei spielen seiner Meinung nach chinesische Big-Data-Anbieter eine gewichtige Rolle.
Den Weg bereiten wird das 14. Fünfjahresprogramm 2021 bis 2025, das die chinesische Regierung im März verabschiedet. Willi Li, Representative & Managing Director bei dem Automobillogistiker BLG China in Shanghai, meint: „Als Schwerpunkt des neuen Fünfjahresplans wird die Regierung die elektrifizierte, intelligente und vernetzte Autoindustrie definitiv mit Einführung von finanziellen und politischen Maßnahmen stark unterstützen.“ Der Branchenkenner bemerkt „den klaren Trend“, dass die chinesische Autoindustrie – in enger Kooperation mit führenden Internet- und Hightechunternehmen – Schlüsselkomponenten und Techniken wie 5G, Software, Chips, Vernetzung „wesentlich ausbaut“.
Als Tochterfirma von BLG Logistics in Bremen bietet BLG China Logistiklösungen für den chinesischen Automobilmarkt an, inklusive Technikzentren und Teilelogistik. Li beziffert die nationalen Pkw-Verkaufszahlen für 2020 mit 19,3 Millionen Fahrzeugen – und damit 6,8 Prozent weniger als im Vorjahr, das sei „ganz klar pandemiebedingt“. Seit Mai 2020 habe sich die Automobilindustrie in China aber „stetig und teilweise stark erholt“. Aufgrund der geringen Verkäufe im Coronajahr hält er ein Wachstum des chinesischen Automobilmarktes im Jahr 2021 gegenüber dem Vorjahr für „nahezu sicher“. Vor allem bei deutschen Premiumherstellern erwartet Li nach zuletzt teilweise zweistelligem Absatzwachstum wie bei Daimler (plus 11,7 Prozent), dass sich dieser Trend fortsetzt.
Das sieht auch Glemser von Mercedes-Benz so: „China ist Wachstumsmotor der Automobilindustrie mit fast 50 Prozent des weltweiten Volumens und eine Stütze anderer Märkte.“ Margenträchtige Oberklassefahrzeuge stehen bei den markenbewussten Chinesen nach wie vor hoch im Kurs – „Mercedes bleibt Mercedes“, weiß Glemser. Hersteller dürfen sich aber nicht den Luxus leisten, sich darauf auszuruhen. Deshalb habe es bei deutschen OEMs längst auch digital und im Bereich Innovationen „klick“ gemacht, findet er und nennt als Beispiel das geplante eigene Betriebssystem Mercedes-Benz Operating System (MBOS) oder iDrive, das Bedienkonzept des Infotainmentsystems von BMW.
Problematisch: Wachsende Abhängigkeit und bestehende Überkapazitäten
Audi gründet bis Ende März in Changchun das Joint Venture (JV) Premium Platform Electric (PPD) für den Bau von vollelektrischen Oberklasse-Autos. Die ersten chinesischen E-Audis sollen 2024 vom Band rollen. Das JV komme zwar spät, meint Prof. Stefan Reindl, wissenschaftlicher Direktor und CEO des Instituts für Automobilwirtschaft in Geislingen/Steige, „aber wohl noch rechtzeitig, um gerade im Premiumbereich neue Pfade zu beschreiten“. Denn in diesem Marktsegment seien die chinesischen Automobilhersteller selbst noch recht verhalten im Markt vertreten. „Insofern ist es für den Volkswagen-Konzern insgesamt sinnvoll, dass sich gerade Audi dort mit diesem Projekt positioniert.“
Die mittlerweile große und wachsende Abhängigkeit von China findet Reindl aber „nicht unproblematisch“ für die premiumorientierte Automobilwirtschaft, „denn etwaige Markteinbrüche könnten zu einem ruinösen Unterfangen hierzulande führen“. Die politischen Entscheidungsträger in China neigten mitunter auch unvermittelt zu unberechenbaren Reaktionen, beispielsweise Einfuhrbeschränkungen, um die eigene Wirtschaft zu schützen. Andererseits sichert die Abhängigkeit vom größten Automobilmarkt der Welt aktuell in der Coronakrise Arbeitsplätze bei Herstellern, Zulieferern und Logistikdienstleistern.
Doch Prof. Dirk Hartel, der den Studiengang BWL-Dienstleistungsmanagement / Logistik- und Supply-Chain-Management an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart leitet, weist auf ein strukturelles Problem hin: „Die europäische Automobilwirtschaft verfügt nach wie vor über signifikante Überkapazitäten, sowohl in Management und Verwaltung als auch in der Produktion.“ Daran werden die Wachstumsraten in China nichts ändern. Sorge bereiten Hartel zudem pandemiebedingte Verwerfungen in der Lieferkette. Sein Beispiel ist der Engpass bei asiatischen Halbleiterherstellern, „der zunächst bei Mercedes-Benz und VW im Dezember 2020 und bei Audi Mitte Januar 2021 auftrat und dazu führte, dass über 10.000 Mitarbeiter in Ingolstadt und Neckarsulm bis Ende Januar in Kurzarbeit gehen sollten“.
Als Studiendekan an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt in Geislingen/Steige berät Reindl auch Unternehmen der Automobil- und Mobilitätsbranche. Für China empfiehlt er, nachhaltig flexible Strukturen im Hinblick auf die Produktion zu etablieren, um bei plötzlich auftretenden Nachfragerückgängen oder -einbrüchen möglichst schnell reagieren zu können. Solche „Rückfallstrategien“ könnten dann die Auswirkungen abfedern, wenn auch nicht gänzlich abwenden.
Während Audi, Mercedes & Co neue Beschaffungsstrategien in Richtung Dual Sourcing implementieren, müssen nach Meinung von CAM-Direktor Bratzel „gerade Premiumhersteller“ ihre Wertschöpfung erhöhen. Strategische Kooperationen und Joint Ventures mit Zulieferern hält er für den richtigen Weg, um bei innovativen Technologien an Fahrt zu gewinnen. Große deutsche Systemlieferanten wie Bosch, Continental oder ZF seien in Zukunftsfeldern zwar erfolgreich und würden immer wichtiger. Aber im Vergleich zu China hält Bratzel Deutschland für „ein digitales Entwicklungsland“, in ganz Europa fehlten „im Umfeld Vernetzung/Software“ wichtige Kompetenzen. Deshalb spricht er von einem „chinesischen Jahrhundert der Automobilität“.
Trotz ihres riesigen Binnenmarktes wollen die Chinesen in der Automobilindustrie aber nicht nur im eigenen Land am Steuer sitzen. Der Fokus habe sich vom heimischen Markt auf eine globale Präsenz chinesischer Anbieter verschoben, beobachtet Reindl. Tatsächlich sind auch auf deutschen Straßen schon Autos made in China unterwegs: Volvos des chinesischen Geely-Konzerns oder Elektroautos der Marke Polestar vom JV Volvo/Geely. Bratzel rechnet in den nächsten zehn Jahren auf dem deutschen Markt mit weiteren Anbietern aus der Volksrepublik. Gut möglich, dass er dann in einem dieser Modelle Karaoke singt statt wie heute in seinem US-amerikanischen E-Fahrzeug.
Kerstin Kloss
Dieser Beitrag ist in ChinaContact 1-2021 erschienen.