An Chinas Finanzmärkten bleibt dieser Tage kein Stein auf dem anderen. Was mit der überraschenden Absage des Mega-IPOs der Ant Group in Shanghai und Hongkong vor knapp einem Jahr begann, hat sich zu einer der größten regulatorischen Kampagnen der jüngeren chinesischen Geschichte ausgewachsen. Außerdem ist in Peking eine dritte Börse geplant.
Im Visier von Staat und Regulierungsbehörden stehen die nationalen und internationalen Geschäftsinteressen der chinesischen Technologiebranche ebenso wie der Immobilien- und private Ausbildungsmarkt des Landes und die finanziellen Verhältnisse von Chinas Superreichen. Die Auswirkungen auf den chinesischen Kapitalmarkt sind dabei vielschichtig, und bei Investoren herrscht große Verunsicherung bis hin zu der Frage, ob man überhaupt noch in chinesische Unternehmen am zweitgrößten Aktienmarkt der Welt investieren sollte. Tatsächlich hat sich der ausländische Kapitalstrom in den chinesischen Aktienmarkt, der sich in den vergangenen zwei Jahren immerhin auf rund 30 Milliarden US-Dollar pro Monat belief, umgekehrt. Ist die Party zu Ende?
Ein Frage der Interpretation? Vor allem internationale Investoren haben sich in den vergangenen Monaten aus dem chinesischen Markt zurückgezogen, was den deutlichen Unterschied in der Performance zwischen den in Hongkong gelisteten H-Aktien und den in Shanghai und Shenzhen gelisteten A-Aktien erklärt. Im Vergleich zu inländischen Investoren ist es für globale Portfolios sehr viel einfacher, ihre geografische Allokation anzupassen, und auf den ersten Blick liegt diese Entscheidung auch nahe – scheint es doch, als wollte die Partei die Zeit zurückdrehen und die Finanzmärkte wieder unter ihre direkte Kontrolle bringen.
Möglich ist allerdings auch eine andere Interpretation der derzeitigen Entwicklung. Chinas Führung hat die Zeichen – und insbesondere die Risiken – der Zeit erkannt. Das letzte Beispiel für Instabilitäten liefert die Evergrande-Krise am Immobilienmarkt. Auch ist der chinesische Unternehmenssektor hoch verschuldet mit mehr als dem Doppelten der gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung Chinas. Die auf den Weg gebrachten regulatorischen Maßnahmen könnten aus dieser Perspektive als ein Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung der chinesischen Finanzmärkte und der Volkswirtschaft insgesamt interpretiert werden. Für strategische Investoren mit einem entsprechend langen Investmenthorizont wären das gute Nachrichten, zumal das Bewertungsniveau chinesischer Aktien immer attraktiver wird, gerade auch im internationalen Vergleich.
Nicht nur an den Finanzmärkten ist ein deutlicher Wechsel der Schwerpunkte der chinesischen Wirtschaftspolitik erkennbar: weg von Stützungsmaßnahmen für das kurzfristige Wachstum, hin zu langfristigen strategischen Zielen, die die Vermeidung von Finanzmarkt- und Immobilienkrisen genauso einschließt wie den Umweltschutz und die internationale Technologieführerschaft Chinas. Während eine deutliche Blasenbildung nicht nur an den Anleihemärkten, sondern auch an den Immobilienmärkten in vielen Teilen der westlichen Welt aufgrund der anhaltendend extrem lockeren Geldpolitik zu beobachten ist, lässt China sukzessive die Luft entweichen und bleibt auch in der Geld- und Fiskalpolitik vorsichtig. Dementsprechend sind steigende Inflationsraten wie im Westen auch kein Thema in China.
Rote Linien sollen Marktmechanismen stärken Der Kampf der Behörden gegen die ausufernde Verschuldung im chinesischen Immobiliensektor ist in diesem Zusammenhang exemplarisch. Bereits im vergangenen Jahr wurden die sogenannten „drei roten Linien“ eingeführt. Sie sehen vor, dass das Verhältnis von Verbindlichkeiten zu Vermögenswerten bei Chinas Bauträgern nicht mehr als 70 Prozent betragen darf. Zusätzlich gibt es ähnlich harte Vorgaben für den Nettoverschuldungsgrad, der nicht höher sein soll als das Eigenkapital und die kurzfristige Liquidität, die die kurzfristigen Verbindlichkeiten nicht unterschreiten darf. In der Praxis haben die deutlich erhöhten Bonitätsanforderungen zunächst eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt und Chinas hoch verschuldete Immobilienentwickler binnen weniger Monate in die Enge getrieben.
Genau an dieser Stelle beginnt nun auch die politische Dimension des Dramas um Evergrande, denn die chinesische Führung scheint diese Mechanik beenden und den eigentlichen Marktmechanismus am Bondmarkt stärken zu wollen. Der Weg dorthin führt über die konsequente Einbeziehung der Gläubiger, die ihren Teil der Verluste tragen müssen. „Aus Schaden wird man klug“ lautet die Devise, die langfristig bessere Investitionsentscheidungen und ein solideres Finanzsystem zum Ziel hat, in dem Kreditgeber deutlich zurückhaltender bei der Finanzierung unproduktiver Investitionsprojekte sind. Marktwirtschaft besteht eben nicht nur aus Chancen, sondern auch aus Risiken – auch in China.
Dritte Börse angekündigt In eine ähnliche Richtung zielt auch die Direktive vom „Gemeinsamen Wohlstand“, die seit Neuestem immer wieder betont wird. Während die chinesische Regierung gegen große Unternehmen und vermögende Privatpersonen vorgeht, versucht sie gleichzeitig, das Wachstum einer wohlhabenden Mittelschicht zu fördern und den Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten des Landes zu verbessern. Es passt in diesen Zusammenhang, dass Ministerpräsident Li Keqiang unlängst angekündigt hat, 300 Milliarden Yuan für Kredite an Klein- und Kleinstunternehmen bereitstellen zu wollen. Einen Tag später gab Präsident Xi Jinping Pläne für eine neue Börse in Peking bekannt, an der innovative und wachstumsstarke KMUs ihre Chance auf ein Listing bekommen sollen.
Die Neugründung der Börse soll das sogenannte New Third Board reformieren. Als New Third Board wird der Direkthandelsplatz „National Equities Exchange and Quotations“ (NEEQ) bezeichnet. Dort werden Aktien gehandelt, die weder in Shenzhen noch in Shanghai notiert sind. Bis Ende 2020 waren mehr als 8.000 Unternehmen im NEEQ gelistet. Davon entfielen über 90 Prozent auf KMU mit einer Gesamtkapitalisierung von rund 2,65 Billionen Yuan. Die neue Börse soll diesen Prozess weiter beschleunigen. Auch Peking weiß, dass die Innovations- und Wachstumstreiber einer Volkswirtschaft die mittelständischen Unternehmen sind. Bereits am Anfang des Jahres hat die chinesische Regierung ein Programm zum Aufbau von 1.000 Hidden Champions auf den Weg gebracht.
Während China die Fremdkapitalseite seines Kapitalmarkts reformiert, wird dessen Eigenkapitalseite durch die neue Börse weiter gestärkt. Beides macht umso mehr Sinn, als Chinas Unternehmen einem zunehmenden regulatorischen Druck aus den USA ausgesetzt sind und sich das Land immer stärker auf seinen eigenen Kapitalmarkt verlassen muss. Den Fokus auf kleinere und mittlere Unternehmen erachtet die Regierung dabei inzwischen als einen der wichtigsten Faktoren, um bei unterschiedlichen Schlüsseltechnologien und Innovationen noch schnellere Entwicklungsschritte zu vollziehen. Ob und in welchem Umfang sich ausländische Investoren an der neuen Börse in Peking werden engagieren können, ist bislang noch offen. Die an den anderen chinesischen Handelsplätzen erprobten Mechanismen QFII (Qualified Foreign Institutional Investor) und Stock Connect werden über kurz oder lang aber wohl auch auf die neue Börse in Peking ausgeweitet werden.
So verstörend viele der jüngsten Meldungen aus China auf den ersten Blick daher auch wirken – erneut scheint es so zu sein, dass die Wirtschaftspolitik ein klares Ziel verfolgt. Wirtschaftliche, finanzielle, soziale und ökologische Ungleichgewichte sollen mit der aus der Vergangenheit bekannten Kompromisslosigkeit aus dem Weg geräumt und ein langfristiger, nachhaltiger Wachstumspfad eingeschlagen werden. Und an der Entschlossenheit, großen Herausforderungen zu begegnen und langfristig relevante Entscheidungen zu treffen, fehlt es der chinesischen Führung bekanntermaßen nicht.
Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich versichern, dass dies nicht bedeutet, dass Ausländer und ausländische Investoren nicht willkommen sind. Wir befinden uns in einem Umfeld, das Investoren verunsichert, aber die Bestrebungen Chinas sollten nicht als Rückkehr zum Maoismus interpretiert werden.
Ray Dalio, Gründer des US-Hedgefonds Bridgewater Association, gegenüber Financial Times, 26. September 2021 (Seite 13)
Die Entwicklung am chinesischen Kapitalmarkt wird vor diesem Hintergrund volatil bleiben. Dabei sollten Investoren allerdings nicht unterschätzen, wie viel politisches Risiko in den vergangenen Monaten bereits in die Kurse eingepreist wurde. Im direkten Vergleich der Aktien von Alibaba und Amazon zum Beispiel lässt sich diese Entwicklung gut verdeutlichen. Seit Anfang November 2020 befindet sich der Kurs der Alibaba-Aktie im Sinkflug und weist gegenüber den Papieren von Amazon in diesem Zeitraum eine relative Performance von minus 50 Prozent auf (Grafik Seite 17 unten). Während das erwartete Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von Amazon bei 65 liegt, ist das KGV von Alibaba in diesem Zeitraum auf 15 gesunken.
Rückkehr zur Planwirtschaft höchst unwahrscheinlich Natürlich lässt sich nicht vorhersagen, wie weit sich der Kursverfall bei Unternehmen wie Alibaba noch fortsetzen wird, und es geht auch nicht darum, einen möglichen Wendepunkt exakt zu prognostizieren. Für langfristig orientierte Investoren ist es vor allem wichtig zu erkennen, dass sich an den eigentlichen Stärken dieser Unternehmen – zum Beispiel mit Blick auf die Cloud oder künstliche Intelligenz – im Grunde nichts geändert hat. Früher oder später wird deshalb auch der Punkt erreicht sein, an dem der Aktienkurs im Vergleich zum künftigen Ertragspotenzial – selbst in einem veränderten regulatorischen Umfeld – attraktiv ist. Das Gleiche gilt für das chinesische Wachstum. Es wird sich mittelfristig auf Werte zwischen vier und fünf Prozent einpendeln und damit weiterhin über dem Wachstum in den USA und der EU liegen.
Dass die jüngsten regulatorischen Maßnahmen China hingegen in die Planwirtschaft zurückführen werden, ist höchst unwahrscheinlich. Der private Unternehmenssektor in China steuert mehr als 60 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei, stellt 80 Prozent der urbanen Beschäftigung und macht mehr als 50 Prozent des Steueraufkommens und 90 Prozent aller neuen Markteintritte aus. Angesichts dieser Dimensionen, kann es nicht im Interesse der chinesischen Führung liegen, diesen Prozess umzukehren. „Chinas Unterstützung für die Privatwirtschaft hat sich nicht verändert und wird sich auch in Zukunft nicht verändern“, hat der stellvertretende Regierungschef, Liu He, gerade jüngst wieder betont.
Andreas Grünewald ist Gründer und Vorstand der Münchner Vermögensverwaltung FIVV AG und Vorstandsvorsitzender des Verbands unabhängiger Vermögensverwalter Deutschland e.V. (VuV).
Entwicklung der chinesischen Kapitalmärkte in turbulenten Zeiten
An Chinas Finanzmärkten bleibt dieser Tage kein Stein auf dem anderen. Was mit der überraschenden Absage des Mega-IPOs der Ant Group in Shanghai und Hongkong vor knapp einem Jahr begann, hat sich zu einer der größten regulatorischen Kampagnen der jüngeren chinesischen Geschichte ausgewachsen. Außerdem ist in Peking eine dritte Börse geplant.
Im Visier von Staat und Regulierungsbehörden stehen die nationalen und internationalen Geschäftsinteressen der chinesischen Technologiebranche ebenso wie der Immobilien- und private Ausbildungsmarkt des Landes und die finanziellen Verhältnisse von Chinas Superreichen. Die Auswirkungen auf den chinesischen Kapitalmarkt sind dabei vielschichtig, und bei Investoren herrscht große Verunsicherung bis hin zu der Frage, ob man überhaupt noch in chinesische Unternehmen am zweitgrößten Aktienmarkt der Welt investieren sollte. Tatsächlich hat sich der ausländische Kapitalstrom in den chinesischen Aktienmarkt, der sich in den vergangenen zwei Jahren immerhin auf rund 30 Milliarden US-Dollar pro Monat belief, umgekehrt. Ist die Party zu Ende?
Ein Frage der Interpretation?
Vor allem internationale Investoren haben sich in den vergangenen Monaten aus dem chinesischen Markt zurückgezogen, was den deutlichen Unterschied in der Performance zwischen den in Hongkong gelisteten H-Aktien und den in Shanghai und Shenzhen gelisteten A-Aktien erklärt. Im Vergleich zu inländischen Investoren ist es für globale Portfolios sehr viel einfacher, ihre geografische Allokation anzupassen, und auf den ersten Blick liegt diese Entscheidung auch nahe – scheint es doch, als wollte die Partei die Zeit zurückdrehen und die Finanzmärkte wieder unter ihre direkte Kontrolle bringen.
Möglich ist allerdings auch eine andere Interpretation der derzeitigen Entwicklung. Chinas Führung hat die Zeichen – und insbesondere die Risiken – der Zeit erkannt. Das letzte Beispiel für Instabilitäten liefert die Evergrande-Krise am Immobilienmarkt. Auch ist der chinesische Unternehmenssektor hoch verschuldet mit mehr als dem Doppelten der gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung Chinas. Die auf den Weg gebrachten regulatorischen Maßnahmen könnten aus dieser Perspektive als ein Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung der chinesischen Finanzmärkte und der Volkswirtschaft insgesamt interpretiert werden. Für strategische Investoren mit einem entsprechend langen Investmenthorizont wären das gute Nachrichten, zumal das Bewertungsniveau chinesischer Aktien immer attraktiver wird, gerade auch im internationalen Vergleich.
Nicht nur an den Finanzmärkten ist ein deutlicher Wechsel der Schwerpunkte der chinesischen Wirtschaftspolitik erkennbar: weg von Stützungsmaßnahmen für das kurzfristige Wachstum, hin zu langfristigen strategischen Zielen, die die Vermeidung von Finanzmarkt- und Immobilienkrisen genauso einschließt wie den Umweltschutz und die internationale Technologieführerschaft Chinas. Während eine deutliche Blasenbildung nicht nur an den Anleihemärkten, sondern auch an den Immobilienmärkten in vielen Teilen der westlichen Welt aufgrund der anhaltendend extrem lockeren Geldpolitik zu beobachten ist, lässt China sukzessive die Luft entweichen und bleibt auch in der Geld- und Fiskalpolitik vorsichtig. Dementsprechend sind steigende Inflationsraten wie im Westen auch kein Thema in China.
Rote Linien sollen Marktmechanismen stärken
Der Kampf der Behörden gegen die ausufernde Verschuldung im chinesischen Immobiliensektor ist in diesem Zusammenhang exemplarisch. Bereits im vergangenen Jahr wurden die sogenannten „drei roten Linien“ eingeführt. Sie sehen vor, dass das Verhältnis von Verbindlichkeiten zu Vermögenswerten bei Chinas Bauträgern nicht mehr als 70 Prozent betragen darf. Zusätzlich gibt es ähnlich harte Vorgaben für den Nettoverschuldungsgrad, der nicht höher sein soll als das Eigenkapital und die kurzfristige Liquidität, die die kurzfristigen Verbindlichkeiten nicht unterschreiten darf. In der Praxis haben die deutlich erhöhten Bonitätsanforderungen zunächst eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt und Chinas hoch verschuldete Immobilienentwickler binnen weniger Monate in die Enge getrieben.
Genau an dieser Stelle beginnt nun auch die politische Dimension des Dramas um Evergrande, denn die chinesische Führung scheint diese Mechanik beenden und den eigentlichen Marktmechanismus am Bondmarkt stärken zu wollen. Der Weg dorthin führt über die konsequente Einbeziehung der Gläubiger, die ihren Teil der Verluste tragen müssen. „Aus Schaden wird man klug“ lautet die Devise, die langfristig bessere Investitionsentscheidungen und ein solideres Finanzsystem zum Ziel hat, in dem Kreditgeber deutlich zurückhaltender bei der Finanzierung unproduktiver Investitionsprojekte sind. Marktwirtschaft besteht eben nicht nur aus Chancen, sondern auch aus Risiken – auch in China.
Dritte Börse angekündigt
In eine ähnliche Richtung zielt auch die Direktive vom „Gemeinsamen Wohlstand“, die seit Neuestem immer wieder betont wird. Während die chinesische Regierung gegen große Unternehmen und vermögende Privatpersonen vorgeht, versucht sie gleichzeitig, das Wachstum einer wohlhabenden Mittelschicht zu fördern und den Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten des Landes zu verbessern. Es passt in diesen Zusammenhang, dass Ministerpräsident Li Keqiang unlängst angekündigt hat, 300 Milliarden Yuan für Kredite an Klein- und Kleinstunternehmen bereitstellen zu wollen. Einen Tag später gab Präsident Xi Jinping Pläne für eine neue Börse in Peking bekannt, an der innovative und wachstumsstarke KMUs ihre Chance auf ein Listing bekommen sollen.
Die Neugründung der Börse soll das sogenannte New Third Board reformieren. Als New Third Board wird der Direkthandelsplatz „National Equities Exchange and Quotations“ (NEEQ) bezeichnet. Dort werden Aktien gehandelt, die weder in Shenzhen noch in Shanghai notiert sind. Bis Ende 2020 waren mehr als 8.000 Unternehmen im NEEQ gelistet. Davon entfielen über 90 Prozent auf KMU mit einer Gesamtkapitalisierung von rund 2,65 Billionen Yuan. Die neue Börse soll diesen Prozess weiter beschleunigen. Auch Peking weiß, dass die Innovations- und Wachstumstreiber einer Volkswirtschaft die mittelständischen Unternehmen sind. Bereits am Anfang des Jahres hat die chinesische Regierung ein Programm zum Aufbau von 1.000 Hidden Champions auf den Weg gebracht.
Während China die Fremdkapitalseite seines Kapitalmarkts reformiert, wird dessen Eigenkapitalseite durch die neue Börse weiter gestärkt. Beides macht umso mehr Sinn, als Chinas Unternehmen einem zunehmenden regulatorischen Druck aus den USA ausgesetzt sind und sich das Land immer stärker auf seinen eigenen Kapitalmarkt verlassen muss. Den Fokus auf kleinere und mittlere Unternehmen erachtet die Regierung dabei inzwischen als einen der wichtigsten Faktoren, um bei unterschiedlichen Schlüsseltechnologien und Innovationen noch schnellere Entwicklungsschritte zu vollziehen. Ob und in welchem Umfang sich ausländische Investoren an der neuen Börse in Peking werden engagieren können, ist bislang noch offen. Die an den anderen chinesischen Handelsplätzen erprobten Mechanismen QFII (Qualified Foreign Institutional Investor) und Stock Connect werden über kurz oder lang aber wohl auch auf die neue Börse in Peking ausgeweitet werden.
So verstörend viele der jüngsten Meldungen aus China auf den ersten Blick daher auch wirken – erneut scheint es so zu sein, dass die Wirtschaftspolitik ein klares Ziel verfolgt. Wirtschaftliche, finanzielle, soziale und ökologische Ungleichgewichte sollen mit der aus der Vergangenheit bekannten Kompromisslosigkeit aus dem Weg geräumt und ein langfristiger, nachhaltiger Wachstumspfad eingeschlagen werden. Und an der Entschlossenheit, großen Herausforderungen zu begegnen und langfristig relevante Entscheidungen zu treffen, fehlt es der chinesischen Führung bekanntermaßen nicht.
Die Entwicklung am chinesischen Kapitalmarkt wird vor diesem Hintergrund volatil bleiben. Dabei sollten Investoren allerdings nicht unterschätzen, wie viel politisches Risiko in den vergangenen Monaten bereits in die Kurse eingepreist wurde. Im direkten Vergleich der Aktien von Alibaba und Amazon zum Beispiel lässt sich diese Entwicklung gut verdeutlichen. Seit Anfang November 2020 befindet sich der Kurs der Alibaba-Aktie im Sinkflug und weist gegenüber den Papieren von Amazon in diesem Zeitraum eine relative Performance von minus 50 Prozent auf (Grafik Seite 17 unten). Während das erwartete Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von Amazon bei 65 liegt, ist das KGV von Alibaba in diesem Zeitraum auf 15 gesunken.
Rückkehr zur Planwirtschaft höchst unwahrscheinlich
Natürlich lässt sich nicht vorhersagen, wie weit sich der Kursverfall bei Unternehmen wie Alibaba noch fortsetzen wird, und es geht auch nicht darum, einen möglichen Wendepunkt exakt zu prognostizieren. Für langfristig orientierte Investoren ist es vor allem wichtig zu erkennen, dass sich an den eigentlichen Stärken dieser Unternehmen – zum Beispiel mit Blick auf die Cloud oder künstliche Intelligenz – im Grunde nichts geändert hat. Früher oder später wird deshalb auch der Punkt erreicht sein, an dem der Aktienkurs im Vergleich zum künftigen Ertragspotenzial – selbst in einem veränderten regulatorischen Umfeld – attraktiv ist. Das Gleiche gilt für das chinesische Wachstum. Es wird sich mittelfristig auf Werte zwischen vier und fünf Prozent einpendeln und damit weiterhin über dem Wachstum in den USA und der EU liegen.
Dass die jüngsten regulatorischen Maßnahmen China hingegen in die Planwirtschaft zurückführen werden, ist höchst unwahrscheinlich. Der private Unternehmenssektor in China steuert mehr als 60 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei, stellt 80 Prozent der urbanen Beschäftigung und macht mehr als 50 Prozent des Steueraufkommens und 90 Prozent aller neuen Markteintritte aus. Angesichts dieser Dimensionen, kann es nicht im Interesse der chinesischen Führung liegen, diesen Prozess umzukehren. „Chinas Unterstützung für die Privatwirtschaft hat sich nicht verändert und wird sich auch in Zukunft nicht verändern“, hat der stellvertretende Regierungschef, Liu He, gerade jüngst wieder betont.
Andreas Grünewald ist Gründer und Vorstand der Münchner Vermögensverwaltung FIVV AG und Vorstandsvorsitzender des Verbands unabhängiger Vermögensverwalter Deutschland e.V. (VuV).
Dr. Horst Löchel ist Professor für Volkswirtschaftslehre und leitet das Sino-German Center an der Frankfurt School of Finance & Management.
Dieser Beitrag ist in ChinaContact 5-2021 erschienen