Chinas duopolistische Technologiebranche, von den Konzernen Tencent und Alibaba dominiert, wird zurzeit von der chinesischen Regierung reguliert und aufgebrochen. Deutsche Unternehmen können diese Entwicklungen bei der Onlinevermarktung ihrer Konsumgüter und Erzeugnisse nutzen, müssen aber die hohe Branchendynamik und weitere mögliche Regulierungswellen im Blick halten.
Am 17. September dieses Jahres erlebten viele der über eine Milliarde WeChat-Nutzer eine Überraschung: Bekamen sie in ihren App-Nachrichten Links der großen E-Commerce-Plattform Taobao zugeschickt, etwa wenn Freunde auf ein dort gekauftes Produkt hinwiesen, ließen sich diese auch tatsächlich öffnen. Ein paar Tage später entdeckten Nutzer der Alibaba-App Ele.me, einem Online-Essenslieferanten, dass sie nicht nur mit der Alibaba-Bezahlfunktion Alipay bezahlen konnten, sondern dass es auch einen Bezahl-Button für den Wettbewerber WeChatPay gab.
Im Westen ist es selbstverständlich: Man öffnet in WhatsApp oder in einer Facebook-Messenger-Nachricht einen Link zu einem Kaufartikel auf Amazon – das ist kaum der Rede wert. In China war dies bislang nicht möglich und gleicht einer Revolution. Denn das riesige digitale Paralleluniversum des chinesischen Internets ist nicht nur zum Rest der Welt verschlossen, da der Zugang zu westlichen Plattformen und vielen Websites blockiert ist, sondern die chinesischen Technologiekonzerne schotten sich auch gegeneinander ab.
Ummauerte Gärten Solche in sich abgeschlossenen Ökosysteme, in der IT-Branche „Silos“ oder „ummauerte Gärten“ genannt, waren in China bislang Standard. Aus der Super-App WeChat heraus konnte man bislang nicht direkt auf die E-Commerce-Plattformen von Alibaba wie Taobao und TMall zugreifen, aber auch die nächste Generation der Super-Apps, vor allem TikTok (in China Douyin genannt), war aus WeChat heraus nicht erreichbar. Tencent argumentierte bislang, dies geschehe für eine hochwertige Nutzererfahrung – die User sollten nicht mit Spam aus anderen Netzwerken vergrault werden.
Auch chinesische Händler mussten sich unter dem Slogan „Wähle eine von zwei Möglichkeiten (二选一)“ für eines der beiden Großsysteme entscheiden, auf der sie ihre Ware dann ausschließlich vertrieben. TikTok, die wichtigste Social-Media-App für die nach dem Jahr 2000 geborenen Chinesinnen und Chinesen, baute in den vergangenen zwei Jahren ein eigenes Shopsystem mit Werbung und Livestreams auf und blockte Verlinkungen zu den Alibaba-Shops. Start-ups auf der Suche nach Investoren mussten gut überlegen, von wem sie sich Geld geben ließen: War es Alibaba, so waren ab sofort weitere Investitionen von Tencent ausgeschlossen. Kleinere Wettbewerber und junge Firmen hatten es schwer, den Giganten etwas entgegenzusetzen, sie sahen sich mit Tencent und Alibaba einem gigantischen Duopol gegenüber.
Diese Praxis soll nun beendet werden, ordnete das Ministerium für Industrie und Informationstechnologie (MIIT) Anfang September 2021 an. Die Behörde legte im Oktober nach und verlangte auch von Bytedance, der Firma hinter TikTok und Tencent, ihre Plattformen für Dritte durchsuchbar zu machen. In Zukunft könnten zum Beispiel auch in der Suchmaschine Baidu WeChat- oder TikTok-Inhalte mit ihren vielen Millionen Artikeln und Kurzvideos erscheinen.
„Es würde die Komplexität reduzieren, wenn die verschiedenen Ökosysteme miteinander arbeiten müssen.“
Damian Maib, Geschäftsführer der E-Commerce- und Digitalmarketing-Agentur Genuine German
Regulierungswelle trifft auf Techbranche Seit einem Jahr verschärfen Chinas Behörden ihre Aufsicht über viele Wirtschaftsbereiche. Besonders die Digitalbranche wurde überraschend und tiefgreifend reguliert, allen voran digitale Endkundengeschäfte wie Social Media, E-Commerce, Mitfahrgelegenheiten, Taxi- und Essenslieferdienste, digitale Nachhilfe und Onlinegaming. Bereits im November vergangenen Jahres stoppten die Regulierer den Börsengang von Alibabas Zahlungsdienstleister Ant Financial. Im Anschluss wurde der E-Commerce-Gigant zu einer Antimonopolstrafzahlung in Höhe von umgerechnet 2,8 Milliarden US-Dollar angehalten. Die Behörden begründen das Bündel an Regulierungsmaßnahmen mit aus ihrer Sicht unfairem Wettbewerb, Monopolismus und unkontrollierter Datenverarbeitung. Angewandt werden eine Reihe erst kürzlich erlassener Gesetze.
Nachdem das MIIT das Ende der geschlossenen Plattformen angeordnet hat, wird nun mit Spannung die Umsetzung des Personal Information Protection Law (PIPL) erwartet, das den Datenschutz für chinesische Privatpersonen ähnlich stärken soll wie die europäische Datenschutzgrundverordnung und das auf die Geschäftsmodelle der Digitalbranche erhebliche Auswirkungen haben könnte.
Neue digitale Durchlässigkeit im Marketing nutzen „Die Öffnungen fangen gerade erst an“, sagt Damian Maib, Geschäftsführer der E-Commerce- und Digitalmarketing-Agentur Genuine German mit Sitz in Shanghai und Berlin. Die erzwungenen Umwälzungen, die derzeit noch kaum spürbar sind, könnten gute Nachrichten für deutsche Marken und Händler auf den chinesischen Plattformen sein, denn mit freier fließenden Daten sind Chinas Kunden mit geringerem Aufwand digital zu erreichen.
„Auf lange Sicht könnte die neue digitale Durchlässigkeit den Charakter der Plattformen verändern.“
Damian Maib, Geschäftsführer der E-Commerce- und Digitalmarketing-Agentur Genuine German
In China stark präsente Markenhändler müssen aktuell zahlreiche digitale Präsenzen und Accounts betreiben: Sie pflegen ihre Marke auf WeChat mit einem Official Account und Miniprogramm und moderieren dort auch Einkaufsgruppen. Sie verkaufen ihre Produkte in einem Flagshipstore auf Alibabas E-Commerce-Plattform TMall Global und vielleicht auch in einem digitalen Laden in der TikTok-App, um die wichtige junge Kundschaft zu erreichen. Sie verstärken ihre Anstrengungen zu den riesigen Shoppingfestivals, etwa zu Alibabas Singles‘ Day am 11.11. Das bedeutet für Konsumgüterhändler, mehrere Lagerhallen und Logistikketten zu betreiben. Im Onlinemarketing müssen für alle Accounts unterschiedliche Werbeinhalte in verschiedenen Formaten erstellt und Influencer-Livestreaming organisiert werden. „Es würde die Komplexität reduzieren, wenn die verschiedenen Ökosysteme miteinander arbeiten müssen“, so Maib. „Auf lange Sicht könnte die neue digitale Durchlässigkeit den Charakter der Plattformen verändern; auch die Zahl der Kanäle, auf denen Markenhersteller präsent sein müssten, könnte sich verringern.“
Zu dieser Einschätzung kommt auch die Analystin Lillian Li. In einem Blogbeitrag legt sie dar, dass sich die Etappen bis zur Kaufentscheidung in Zukunft auf verschiedene Plattformen verteilen könnten: WeChat und TikTok könnten sich auf Werbung am Anfang der Customer Journey konzentrieren, die Alibaba-Plattformen TMall und Taobao auf die Konvertierung, den Kaufabschluss, die Lieferung und das After-Sales-Managment. Die Kundenakquisitionskosten, die in China durch die Silos sehr hoch sind, würden sinken, so Li, da Werbetreibende ihre Ausgaben über alle Plattformen hinweg reduzieren könnten, um sich auf einige wenige Kanäle zu konzentrieren.
Die hohe Marktdynamik und weitere zu erwartende Regulierungen machen Chinas Konsumenteninternet auch in Zukunft viel komplexer als im Westen. Maib ruft Markenverantwortliche daher auf, so viel Entscheidungsverantwortung vor Ort ans China-Team zu geben wie möglich. „Die Mitarbeiter in China schwimmen mit der Marktdynamik und haben besseren Kontakt zu den Zielgruppen und Trends vor Ort“, sagt Maib, was auch für große und etablierte, qualitativ hochwertige Marken notwendig ist, um im intensiven Wettbewerb zu bestehen.
E-Commerce in China: neue digitale Durchlässigkeit
Chinas duopolistische Technologiebranche, von den Konzernen Tencent und Alibaba dominiert, wird zurzeit von der chinesischen Regierung reguliert und aufgebrochen. Deutsche Unternehmen können diese Entwicklungen bei der Onlinevermarktung ihrer Konsumgüter und Erzeugnisse nutzen, müssen aber die hohe Branchendynamik und weitere mögliche Regulierungswellen im Blick halten.
Am 17. September dieses Jahres erlebten viele der über eine Milliarde WeChat-Nutzer eine Überraschung: Bekamen sie in ihren App-Nachrichten Links der großen E-Commerce-Plattform Taobao zugeschickt, etwa wenn Freunde auf ein dort gekauftes Produkt hinwiesen, ließen sich diese auch tatsächlich öffnen. Ein paar Tage später entdeckten Nutzer der Alibaba-App Ele.me, einem Online-Essenslieferanten, dass sie nicht nur mit der Alibaba-Bezahlfunktion Alipay bezahlen konnten, sondern dass es auch einen Bezahl-Button für den Wettbewerber WeChatPay gab.
Im Westen ist es selbstverständlich: Man öffnet in WhatsApp oder in einer Facebook-Messenger-Nachricht einen Link zu einem Kaufartikel auf Amazon – das ist kaum der Rede wert. In China war dies bislang nicht möglich und gleicht einer Revolution. Denn das riesige digitale Paralleluniversum des chinesischen Internets ist nicht nur zum Rest der Welt verschlossen, da der Zugang zu westlichen Plattformen und vielen Websites blockiert ist, sondern die chinesischen Technologiekonzerne schotten sich auch gegeneinander ab.
Ummauerte Gärten
Solche in sich abgeschlossenen Ökosysteme, in der IT-Branche „Silos“ oder „ummauerte Gärten“ genannt, waren in China bislang Standard. Aus der Super-App WeChat heraus konnte man bislang nicht direkt auf die E-Commerce-Plattformen von Alibaba wie Taobao und TMall zugreifen, aber auch die nächste Generation der Super-Apps, vor allem TikTok (in China Douyin genannt), war aus WeChat heraus nicht erreichbar. Tencent argumentierte bislang, dies geschehe für eine hochwertige Nutzererfahrung – die User sollten nicht mit Spam aus anderen Netzwerken vergrault werden.
Auch chinesische Händler mussten sich unter dem Slogan „Wähle eine von zwei Möglichkeiten (二选一)“ für eines der beiden Großsysteme entscheiden, auf der sie ihre Ware dann ausschließlich vertrieben. TikTok, die wichtigste Social-Media-App für die nach dem Jahr 2000 geborenen Chinesinnen und Chinesen, baute in den vergangenen zwei Jahren ein eigenes Shopsystem mit Werbung und Livestreams auf und blockte Verlinkungen zu den Alibaba-Shops. Start-ups auf der Suche nach Investoren mussten gut überlegen, von wem sie sich Geld geben ließen: War es Alibaba, so waren ab sofort weitere Investitionen von Tencent ausgeschlossen. Kleinere Wettbewerber und junge Firmen hatten es schwer, den Giganten etwas entgegenzusetzen, sie sahen sich mit Tencent und Alibaba einem gigantischen Duopol gegenüber.
Diese Praxis soll nun beendet werden, ordnete das Ministerium für Industrie und Informationstechnologie (MIIT) Anfang September 2021 an. Die Behörde legte im Oktober nach und verlangte auch von Bytedance, der Firma hinter TikTok und Tencent, ihre Plattformen für Dritte durchsuchbar zu machen. In Zukunft könnten zum Beispiel auch in der Suchmaschine Baidu WeChat- oder TikTok-Inhalte mit ihren vielen Millionen Artikeln und Kurzvideos erscheinen.
Regulierungswelle trifft auf Techbranche
Seit einem Jahr verschärfen Chinas Behörden ihre Aufsicht über viele Wirtschaftsbereiche. Besonders die Digitalbranche wurde überraschend und tiefgreifend reguliert, allen voran digitale Endkundengeschäfte wie Social Media, E-Commerce, Mitfahrgelegenheiten, Taxi- und Essenslieferdienste, digitale Nachhilfe und Onlinegaming. Bereits im November vergangenen Jahres stoppten die Regulierer den Börsengang von Alibabas Zahlungsdienstleister Ant Financial. Im Anschluss wurde der E-Commerce-Gigant zu einer Antimonopolstrafzahlung in Höhe von umgerechnet 2,8 Milliarden US-Dollar angehalten. Die Behörden begründen das Bündel an Regulierungsmaßnahmen mit aus ihrer Sicht unfairem Wettbewerb, Monopolismus und unkontrollierter Datenverarbeitung. Angewandt werden eine Reihe erst kürzlich erlassener Gesetze.
Nachdem das MIIT das Ende der geschlossenen Plattformen angeordnet hat, wird nun mit Spannung die Umsetzung des Personal Information Protection Law (PIPL) erwartet, das den Datenschutz für chinesische Privatpersonen ähnlich stärken soll wie die europäische Datenschutzgrundverordnung und das auf die Geschäftsmodelle der Digitalbranche erhebliche Auswirkungen haben könnte.
Neue digitale Durchlässigkeit im Marketing nutzen
„Die Öffnungen fangen gerade erst an“, sagt Damian Maib, Geschäftsführer der E-Commerce- und Digitalmarketing-Agentur Genuine German mit Sitz in Shanghai und Berlin. Die erzwungenen Umwälzungen, die derzeit noch kaum spürbar sind, könnten gute Nachrichten für deutsche Marken und Händler auf den chinesischen Plattformen sein, denn mit freier fließenden Daten sind Chinas Kunden mit geringerem Aufwand digital zu erreichen.
In China stark präsente Markenhändler müssen aktuell zahlreiche digitale Präsenzen und Accounts betreiben: Sie pflegen ihre Marke auf WeChat mit einem Official Account und Miniprogramm und moderieren dort auch Einkaufsgruppen. Sie verkaufen ihre Produkte in einem Flagshipstore auf Alibabas E-Commerce-Plattform TMall Global und vielleicht auch in einem digitalen Laden in der TikTok-App, um die wichtige junge Kundschaft zu erreichen. Sie verstärken ihre Anstrengungen zu den riesigen Shoppingfestivals, etwa zu Alibabas Singles‘ Day am 11.11. Das bedeutet für Konsumgüterhändler, mehrere Lagerhallen und Logistikketten zu betreiben. Im Onlinemarketing müssen für alle Accounts unterschiedliche Werbeinhalte in verschiedenen Formaten erstellt und Influencer-Livestreaming organisiert werden. „Es würde die Komplexität reduzieren, wenn die verschiedenen Ökosysteme miteinander arbeiten müssen“, so Maib. „Auf lange Sicht könnte die neue digitale Durchlässigkeit den Charakter der Plattformen verändern; auch die Zahl der Kanäle, auf denen Markenhersteller präsent sein müssten, könnte sich verringern.“
Zu dieser Einschätzung kommt auch die Analystin Lillian Li. In einem Blogbeitrag legt sie dar, dass sich die Etappen bis zur Kaufentscheidung in Zukunft auf verschiedene Plattformen verteilen könnten: WeChat und TikTok könnten sich auf Werbung am Anfang der Customer Journey konzentrieren, die Alibaba-Plattformen TMall und Taobao auf die Konvertierung, den Kaufabschluss, die Lieferung und das After-Sales-Managment. Die Kundenakquisitionskosten, die in China durch die Silos sehr hoch sind, würden sinken, so Li, da Werbetreibende ihre Ausgaben über alle Plattformen hinweg reduzieren könnten, um sich auf einige wenige Kanäle zu konzentrieren.
Die hohe Marktdynamik und weitere zu erwartende Regulierungen machen Chinas Konsumenteninternet auch in Zukunft viel komplexer als im Westen. Maib ruft Markenverantwortliche daher auf, so viel Entscheidungsverantwortung vor Ort ans China-Team zu geben wie möglich. „Die Mitarbeiter in China schwimmen mit der Marktdynamik und haben besseren Kontakt zu den Zielgruppen und Trends vor Ort“, sagt Maib, was auch für große und etablierte, qualitativ hochwertige Marken notwendig ist, um im intensiven Wettbewerb zu bestehen.
Corinna Bremer
Dieser Beitrag ist in ChinaContact 6-2021 erschienen.