Der Staat muss aus alten Fehlen lernen, wenn Russland die Coronakrise als Chance nutzen will. Und er sollte zur Wirtschaftsbelebung zum ungeliebten Instrument des Helikoptergeldes greifen.
Die russische Wirtschaft befindet sich in einer schwierigen Situation. Coronabedingt sinkt die Wirtschaftsleistung, steigen Arbeitslosigkeit und Armut sprunghaft an. Im April fiel das russische Bruttoinlandsprodukt um 28 Prozent. Ein solch beispielloser Zusammenbruch ist nicht nur auf staatliche Restriktionen, sondern auch auf die deutlich gefallenen Rohstoffpreise zurückzuführen. So fiel der Durchschnittspreis von Öl der Marke Urals auf 20 US-Dollar pro Barrel, im Vergleich zu 64 US-Dollar im Vorjahr. Praktisch jeder Wirtschaftssektor will jetzt vom Staat Unterstützung haben – egal ob große oder kleine Unternehmen, ob arm oder reich. Sogar die Öl- und Gasindustrie, das Rückgrat der russischen Ökonomie, ruft nach Hilfe der Politik.
Adäquate Lösungen zu finden, ist nicht einfach. In den vergangenen Wochen ist deshalb für viel über Sinn und Zweck solcher Anti-Krisen-Maßnahmen diskutiert worden. Wie viele andere Experten auch, so halte ich die getroffenen Entscheidungen für nicht ausreichend. Es ist Aufgabe der Politik, wieder eine Nachfrage zu generieren, die der Wirtschaft aus der Talsohle hilft. Genauso wichtig ist es, Niedrigverdiener vor einem Abrutschen in die Armut zu bewahren. Um es auf den Punkt zu bringen: Es ist nicht wichtig, um wie viele Prozentpunkte die Wirtschaftsleistung sinkt oder steigt. Viel wichtiger ist das Überleben der Menschen.
Politik zu zaghaft
Bei der Benennung der Prioritäten geht der Staat zu langsam vor. So entsteht manchmal der Eindruck, dass die Regierung Finanzmittel zurückhält, weil sie nicht weiß, an wen genau sie diese verteilen soll. Leidtragende sind die kleinen und mittleren Unternehmen, denen langsam aber sicher das Geld ausgeht. So könnten viele Unternehmen gerade der Hotelindustrie oder der Gastronomie entweder komplett vom Markt verschwinden oder von größeren Einheiten „geschluckt“ werden, die bedingt durch ihre Struktur über eine höhere Krisenresistenz verfügen. Dies ist in der Tat ein gefährlicher Prozess, weil der Monopolisierungsgrad in Russland sowieso schon sehr hoch.
Helikoptergeld als Alternative
Eine Alternative zu den derzeitigen Maßnahmen, die einen sehr bürokratischen Charakter haben, wären direkte Geldzahlungen. Auch wenn dieses Modell etwas populistisch klingt und ich den Begriff „Helikoptergeld“ nicht mag, bin ich der Meinung, dass der Staat dafür Mittel in Höhe von sechs bis sieben Prozent des BIP bereitstellen sollte. Ich spreche von Einmalzahlungen in Höhe von etwa 20.000 Rubel, die betroffenen Bürgern möglichst unbürokratisch zur Verfügung gestellt werden müssten, etwa gegen Vorlage des Ausweises. Dabei geht es um insgesamt um etwa 1,5 Billionen Rubel (umgerechnet rund 18 Milliarden Euro), was kein allzu großer Betrag ist. Ich glaube tatsächlich, dass wir nicht ohne dieses „Helikoptergeld“ auskommen werden.
Natürlich bin ich eigentlich ein Gegner von Gelddrucken in Zeiten der Stagnation. Aber wir befinden uns mittlerweile in einer Rezession. Hier darf keine Rücksicht mehr auf eine Inflationsgefahr genommen werden. Es droht vielmehr eine Deflation, weil es kaum noch Nachfrage gibt.
Wohin führt die Krise?
Es gibt Experten, die behaupten, dass die Wirtschaft nach der Krise gerechter werden wird und eine neue Version der sozialen Marktwirtschaft Einzug halten könnte. Andere sagen, dass nichts dergleichen passieren wird und verweisen auf die Krisenjahre 2008 und 2009. Auch damals haben die Experten zahlreiche Reformen vorhergesagt, die jedoch nie umgesetzt worden sind. Oftmals sind Krisenursachen komplett unangetastet geblieben. Als Beispiel möchte ich hier die Hyperentwicklung des Finanzsektors nennen.
Was die aktuelle Krise angeht, so könnte sie in Russland zu einer zeitweiligen Abkehr von der Globalisierung führen, weil man künftig der Sicherheit den Vorzug vor Gewinnmaximierung geben wird. Dazu zählt auch Verstärkung der Importsubstitutionspolitik, die die heimische Wirtschaft stärken soll. Dadurch ergibt sich tatsächlich die Chance, wieder zu einer selbstständigen Fertigung von Endprodukten zurückzukehren. Dies ist sehr wichtig, weil die primitive Ausrichtung der Industrie in Richtung eines reinen Exports von fossilen Energieträgern ein großes Problem der Transformationszeit der 1990er- und 2000er-Jahre gewesen ist. Man könnte sogar sagen, dass sich die russische Wirtschaft aufgrund dieser skandalösen Abhängigkeit leider nicht weiterentwickeln konnte.
Aktuell gibt es Anzeichen dafür, dass Russland der verstärkten regionalen Integration den Vorzug vor einer weiteren Globalisierung geben könnte. Zwar ist die Eurasische Wirtschaftsunion ein guter Anfang, aber der Integrationsgrad ist noch nicht allzu hoch. Hier gibt es noch enormes Entwicklungspotenzial. Nach der Krise könnte sich das Tempo spürbar beschleunigen. Für die Zukunft gehe ich deshalb von einer Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen mit unseren direkten Nachbarn aus.
Prof. Ruslan Grinberg Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Wirtschaft an der Russischen Akademie der Wissenschaften
Grinberg kommentiert: Russland nach Corona – Was wird sich ändern?
Der Staat muss aus alten Fehlen lernen, wenn Russland die Coronakrise als Chance nutzen will. Und er sollte zur Wirtschaftsbelebung zum ungeliebten Instrument des Helikoptergeldes greifen.
Die russische Wirtschaft befindet sich in einer schwierigen Situation. Coronabedingt sinkt die Wirtschaftsleistung, steigen Arbeitslosigkeit und Armut sprunghaft an. Im April fiel das russische Bruttoinlandsprodukt um 28 Prozent. Ein solch beispielloser Zusammenbruch ist nicht nur auf staatliche Restriktionen, sondern auch auf die deutlich gefallenen Rohstoffpreise zurückzuführen. So fiel der Durchschnittspreis von Öl der Marke Urals auf 20 US-Dollar pro Barrel, im Vergleich zu 64 US-Dollar im Vorjahr. Praktisch jeder Wirtschaftssektor will jetzt vom Staat Unterstützung haben – egal ob große oder kleine Unternehmen, ob arm oder reich. Sogar die Öl- und Gasindustrie, das Rückgrat der russischen Ökonomie, ruft nach Hilfe der Politik.
Adäquate Lösungen zu finden, ist nicht einfach. In den vergangenen Wochen ist deshalb für viel über Sinn und Zweck solcher Anti-Krisen-Maßnahmen diskutiert worden. Wie viele andere Experten auch, so halte ich die getroffenen Entscheidungen für nicht ausreichend. Es ist Aufgabe der Politik, wieder eine Nachfrage zu generieren, die der Wirtschaft aus der Talsohle hilft. Genauso wichtig ist es, Niedrigverdiener vor einem Abrutschen in die Armut zu bewahren. Um es auf den Punkt zu bringen: Es ist nicht wichtig, um wie viele Prozentpunkte die Wirtschaftsleistung sinkt oder steigt. Viel wichtiger ist das Überleben der Menschen.
Politik zu zaghaft
Bei der Benennung der Prioritäten geht der Staat zu langsam vor. So entsteht manchmal der Eindruck, dass die Regierung Finanzmittel zurückhält, weil sie nicht weiß, an wen genau sie diese verteilen soll. Leidtragende sind die kleinen und mittleren Unternehmen, denen langsam aber sicher das Geld ausgeht. So könnten viele Unternehmen gerade der Hotelindustrie oder der Gastronomie entweder komplett vom Markt verschwinden oder von größeren Einheiten „geschluckt“ werden, die bedingt durch ihre Struktur über eine höhere Krisenresistenz verfügen. Dies ist in der Tat ein gefährlicher Prozess, weil der Monopolisierungsgrad in Russland sowieso schon sehr hoch.
Helikoptergeld als Alternative
Eine Alternative zu den derzeitigen Maßnahmen, die einen sehr bürokratischen Charakter haben, wären direkte Geldzahlungen. Auch wenn dieses Modell etwas populistisch klingt und ich den Begriff „Helikoptergeld“ nicht mag, bin ich der Meinung, dass der Staat dafür Mittel in Höhe von sechs bis sieben Prozent des BIP bereitstellen sollte. Ich spreche von Einmalzahlungen in Höhe von etwa 20.000 Rubel, die betroffenen Bürgern möglichst unbürokratisch zur Verfügung gestellt werden müssten, etwa gegen Vorlage des Ausweises. Dabei geht es um insgesamt um etwa 1,5 Billionen Rubel (umgerechnet rund 18 Milliarden Euro), was kein allzu großer Betrag ist. Ich glaube tatsächlich, dass wir nicht ohne dieses „Helikoptergeld“ auskommen werden.
Natürlich bin ich eigentlich ein Gegner von Gelddrucken in Zeiten der Stagnation. Aber wir befinden uns mittlerweile in einer Rezession. Hier darf keine Rücksicht mehr auf eine Inflationsgefahr genommen werden. Es droht vielmehr eine Deflation, weil es kaum noch Nachfrage gibt.
Wohin führt die Krise?
Es gibt Experten, die behaupten, dass die Wirtschaft nach der Krise gerechter werden wird und eine neue Version der sozialen Marktwirtschaft Einzug halten könnte. Andere sagen, dass nichts dergleichen passieren wird und verweisen auf die Krisenjahre 2008 und 2009. Auch damals haben die Experten zahlreiche Reformen vorhergesagt, die jedoch nie umgesetzt worden sind. Oftmals sind Krisenursachen komplett unangetastet geblieben. Als Beispiel möchte ich hier die Hyperentwicklung des Finanzsektors nennen.
Was die aktuelle Krise angeht, so könnte sie in Russland zu einer zeitweiligen Abkehr von der Globalisierung führen, weil man künftig der Sicherheit den Vorzug vor Gewinnmaximierung geben wird. Dazu zählt auch Verstärkung der Importsubstitutionspolitik, die die heimische Wirtschaft stärken soll. Dadurch ergibt sich tatsächlich die Chance, wieder zu einer selbstständigen Fertigung von Endprodukten zurückzukehren. Dies ist sehr wichtig, weil die primitive Ausrichtung der Industrie in Richtung eines reinen Exports von fossilen Energieträgern ein großes Problem der Transformationszeit der 1990er- und 2000er-Jahre gewesen ist. Man könnte sogar sagen, dass sich die russische Wirtschaft aufgrund dieser skandalösen Abhängigkeit leider nicht weiterentwickeln konnte.
Aktuell gibt es Anzeichen dafür, dass Russland der verstärkten regionalen Integration den Vorzug vor einer weiteren Globalisierung geben könnte. Zwar ist die Eurasische Wirtschaftsunion ein guter Anfang, aber der Integrationsgrad ist noch nicht allzu hoch. Hier gibt es noch enormes Entwicklungspotenzial. Nach der Krise könnte sich das Tempo spürbar beschleunigen. Für die Zukunft gehe ich deshalb von einer Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen mit unseren direkten Nachbarn aus.
Prof. Ruslan Grinberg
Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Wirtschaft an der Russischen Akademie der Wissenschaften