Im Russland, dem größten Land der Eurasischen Wirtschaftsunion, findet in der kommenden Woche die größte Verfassungsreform der Geschichte statt.
Am 1. Juli 2020 stimmt Russland über die größte Verfassungsreform seit der Einführung der Verfassung für die Russische Föderation im Jahr 1993 ab. Sie bringt neben vielen umstrittenen Änderungen eine Annullierung der Amtszeiten von Wladimir Putin und ermöglicht ihm somit eine erneute Kandidatur sowohl 2024 als auch 2030; dies wurde vom russischen Verfassungsgericht geprüft und für rechtens befunden.
Die zahlreichen Änderungen entpuppen sich bei einer genaueren Betrachtung als weitgehend kosmetischer Natur. Gleiche oder ähnliche Rechtspositionen finden sich bereits seit vielen Jahren entweder in der Verfassung selbst, in Gesetzen oder in der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichts wieder. Eine weitere Erwähnung in der Verfassung wäre somit nicht notwendig gewesen.
Wozu bedarf es also der zahlreichen Verfassungsänderungen?
Diese sollen möglichst viele Menschen zu den Abstimmungsurnen bringen und somit für eine ausreichende Legitimation der Verfassungsreform, vor allem aber der Kandidatur Wladimir Putins 2024, sorgen. Wie bei den Präsidentschaftswahlen 2018 verfolgt die russische Präsidialadministration wohl wieder die sogenannte 70/70- Strategie – 70 Prozent der Wahlberechtigte sollen eine 70 Prozent Zustimmung für die Verfassungsreform garantieren. Aus diesem Grund möchte man auch möglichst unterschiedliche Wählergruppen ansprechen.
Das Vorgehen des Kremls rund um die Verfassungsreform war wohl kaum spontan, vielmehr war es eine minutiös geplante Inszenierung. Scheinbar ging man zunächst von mehreren Machttransit-Varianten aus; diese dürften aber als zu risikoreich bewertet worden sein. Letztlich entschied sich der Kreml gegen das Machttransit-Szenario nach dem Vorbild Kasachstans. Eine nicht unbedeutende Rolle dürfte dabei (ähnlich wie schon 2011 bei der Rochade zwischen Putin und Medwedjew) der Druck vonseiten eines engen Elitezirkels gespielt haben.
Was waren die Beweggründe für die Überraschungsreform?
Mit der Erweiterung des Einflusses des Präsidenten innerhalb des russischen Machtsystems reagiert der Kreml auf die Protestwellen der Jahre 2018/2019, behält die Kontrolle über den Machttransit und bereitet sich, sicherheitshalber, auf eine nicht zur Kooperation bereite, präsidenten-unfreundliche Duma vor. Vor allem aber rückt mit der Verfassungsreform die heiß diskutierte Nachfolgerfrage in den Hintergrund. Damit bannt Putin aber auch die ohnehin nicht allzu große Gefahr, bereits im Jahr 2020 als „Lame Duck“-Präsident betrachtet zu werden. Der Machttransit in jetziger Form entpuppt sich als jedenfalls vorläufiger Machterhalt für das System Putin. Der hinausgezögerte Machttransit wird aber umso problematischer sein. Dass Wladimir Putin nach 2024 bleibt, stand außer Frage. Dass er wohl auch nach 2024 das Amt des Präsidenten bekleiden wird, ist aber eine große Überraschung. Bislang wurde diese Möglichkeit als ein durchaus vorstellbares, aber dennoch als ein Ultima-Ratio-Szenario betrachtet.
Auswirkungen auf die EAWU
Nachdem die strategischen Letztentscheidungen über die Entwicklungsrichtung der EAWU auf der Ebene der Staatschefs getroffen werden, sichert der geplante Verbleib Putins im Amt politische Kontinuität. Dank des hinausgezögerten Machttransits wird sich die russische Führung in den kommenden Jahren auf Außenwirtschaftsagenden im GUS-Raum konzentrieren können, in erster Linie auf die EAWU als potenzielle Ausgangsbasis für Verhandlungen mit China, aber auch mit der EU.
Bedeutet die Verfassungsreform politischen Stillstand in Russland?
Nicht unbedingt. Der Machttransit beschränkt sich nicht auf die Person Putins oder einen einzelnen Nachfolger. Eine ganze Nachfolgergeneration bezieht gerade in Russland machtpolitisch Stellung. Mit jedem Tag gewinnt die Nachfolgergeneration an Stärke, Profil und Einfluss. Daran wird auch Putins erneute Kandidatur und die sichere Wiederwahl 2024 nichts ändern. Putin bekommt mehr Kontrolle, vor allem aber Zeit, um den Generationenwechsel unter enger Begleitung abzuschließen.
Seltsam bleibt eine Sache dennoch. Bislang traf Putin die Letztentscheidung immer möglichst spät. Ob es sich um die endgültige Entscheidung für 2024 handelt, darf in diesem Lichte freilich angezweifelt werden. Schließlich ist noch nicht aller Tage Abend und Wladimir Putin ist nach wie vor für eine Überraschung gut.
Dr. Alexander Dubowy ist Forscher im Bereich Internationale Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und den GUS-Raum.
EAWU Insights: Russland stimmt über neue Verfassung ab
Im Russland, dem größten Land der Eurasischen Wirtschaftsunion, findet in der kommenden Woche die größte Verfassungsreform der Geschichte statt.
Am 1. Juli 2020 stimmt Russland über die größte Verfassungsreform seit der Einführung der Verfassung für die Russische Föderation im Jahr 1993 ab. Sie bringt neben vielen umstrittenen Änderungen eine Annullierung der Amtszeiten von Wladimir Putin und ermöglicht ihm somit eine erneute Kandidatur sowohl 2024 als auch 2030; dies wurde vom russischen Verfassungsgericht geprüft und für rechtens befunden.
Die zahlreichen Änderungen entpuppen sich bei einer genaueren Betrachtung als weitgehend kosmetischer Natur. Gleiche oder ähnliche Rechtspositionen finden sich bereits seit vielen Jahren entweder in der Verfassung selbst, in Gesetzen oder in der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichts wieder. Eine weitere Erwähnung in der Verfassung wäre somit nicht notwendig gewesen.
Wozu bedarf es also der zahlreichen Verfassungsänderungen?
Diese sollen möglichst viele Menschen zu den Abstimmungsurnen bringen und somit für eine ausreichende Legitimation der Verfassungsreform, vor allem aber der Kandidatur Wladimir Putins 2024, sorgen. Wie bei den Präsidentschaftswahlen 2018 verfolgt die russische Präsidialadministration wohl wieder die sogenannte 70/70- Strategie – 70 Prozent der Wahlberechtigte sollen eine 70 Prozent Zustimmung für die Verfassungsreform garantieren. Aus diesem Grund möchte man auch möglichst unterschiedliche Wählergruppen ansprechen.
Das Vorgehen des Kremls rund um die Verfassungsreform war wohl kaum spontan, vielmehr war es eine minutiös geplante Inszenierung. Scheinbar ging man zunächst von mehreren Machttransit-Varianten aus; diese dürften aber als zu risikoreich bewertet worden sein. Letztlich entschied sich der Kreml gegen das Machttransit-Szenario nach dem Vorbild Kasachstans. Eine nicht unbedeutende Rolle dürfte dabei (ähnlich wie schon 2011 bei der Rochade zwischen Putin und Medwedjew) der Druck vonseiten eines engen Elitezirkels gespielt haben.
Was waren die Beweggründe für die Überraschungsreform?
Mit der Erweiterung des Einflusses des Präsidenten innerhalb des russischen Machtsystems reagiert der Kreml auf die Protestwellen der Jahre 2018/2019, behält die Kontrolle über den Machttransit und bereitet sich, sicherheitshalber, auf eine nicht zur Kooperation bereite, präsidenten-unfreundliche Duma vor. Vor allem aber rückt mit der Verfassungsreform die heiß diskutierte Nachfolgerfrage in den Hintergrund. Damit bannt Putin aber auch die ohnehin nicht allzu große Gefahr, bereits im Jahr 2020 als „Lame Duck“-Präsident betrachtet zu werden. Der Machttransit in jetziger Form entpuppt sich als jedenfalls vorläufiger Machterhalt für das System Putin. Der hinausgezögerte Machttransit wird aber umso problematischer sein. Dass Wladimir Putin nach 2024 bleibt, stand außer Frage. Dass er wohl auch nach 2024 das Amt des Präsidenten bekleiden wird, ist aber eine große Überraschung. Bislang wurde diese Möglichkeit als ein durchaus vorstellbares, aber dennoch als ein Ultima-Ratio-Szenario betrachtet.
Auswirkungen auf die EAWU
Nachdem die strategischen Letztentscheidungen über die Entwicklungsrichtung der EAWU auf der Ebene der Staatschefs getroffen werden, sichert der geplante Verbleib Putins im Amt politische Kontinuität. Dank des hinausgezögerten Machttransits wird sich die russische Führung in den kommenden Jahren auf Außenwirtschaftsagenden im GUS-Raum konzentrieren können, in erster Linie auf die EAWU als potenzielle Ausgangsbasis für Verhandlungen mit China, aber auch mit der EU.
Bedeutet die Verfassungsreform politischen Stillstand in Russland?
Nicht unbedingt. Der Machttransit beschränkt sich nicht auf die Person Putins oder einen einzelnen Nachfolger. Eine ganze Nachfolgergeneration bezieht gerade in Russland machtpolitisch Stellung. Mit jedem Tag gewinnt die Nachfolgergeneration an Stärke, Profil und Einfluss. Daran wird auch Putins erneute Kandidatur und die sichere Wiederwahl 2024 nichts ändern. Putin bekommt mehr Kontrolle, vor allem aber Zeit, um den Generationenwechsel unter enger Begleitung abzuschließen.
Seltsam bleibt eine Sache dennoch. Bislang traf Putin die Letztentscheidung immer möglichst spät. Ob es sich um die endgültige Entscheidung für 2024 handelt, darf in diesem Lichte freilich angezweifelt werden. Schließlich ist noch nicht aller Tage Abend und Wladimir Putin ist nach wie vor für eine Überraschung gut.
Dr. Alexander Dubowy
ist Forscher im Bereich Internationale Beziehungen und Sicherheitspolitik
mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und den GUS-Raum.