Der Präsident der Bosch-Gruppe in Russland, Hansjürgen Overstolz, kommentiert die wirtschaftliche und politische Zukunft Russlands nach Corona.
Wenn wir etwas tiefschürfender über die Chancen nach Corona und die Zukunft Russland nachdenken wollen, dann möchte ich drei Phänomene ins Blickfeld nehmen. Die Bewältigung der Corona-Epidemie selbst ist das unmittelbarste Problem, aber darüber hinaus werden ihre Auswirkungen auch durch das eher geringere Wirtschaftswachstum des Landes – akzentuiert durch die fast gleichzeitig aufgetretene Ölkrise – zusätzlich verstärkt. Diese wirtschaftliche Ausgangslage führt uns letztlich an das tiefersitzende und größere Problem: Die politische Vision für Russland bleibt eine fundamentale und langfristige Herausforderung.
Mit entsprechenden Finanzmitteln lassen sich die Wirtschaftsprobleme nur vordergründig lösen, nachhaltig aber nur, wenn bei den handelnden Personen die notwendige Erkenntnis gereift ist, eine langfristige Wirtschaftsreform zu verfolgen und den bestehenden nationalen und internationalen Politikansatz weiterzuentwickeln.
Russlands Sonderweg?
Die Coronakrise stellt eine große Herausforderung dar, weil sie die Verantwortlichen zwingt, zwischen dem epidemiologisch Notwendigen und dem wirtschaftlich Machbaren eine geeignete Balance zu finden. Dafür gibt es keinen Königsweg, aber empirische Beobachtungen. In Russlands Nachbarländern Belarus, Georgien, Kasachstan und der Ukraine beugt man sich eher der wirtschaftlichen Notwendigkeit und versucht die Krise „mit der Zeit“ zu lösen. In Westeuropa nutzt man die größeren finanziellen Möglichkeiten, um mit einzelstaatlichen und gesamteuropäischen Milliarden Unterstützungen den Coronavirus unverzüglich und nachhaltig niederzuringen. Ob Russland mögliche, langfristige Kollateralschäden in den westlichen Gesellschaften, die vielleicht noch gar nicht überblickt werden können, unbewusst vermeidet, sei heute hoffnungsfroh dahingestellt.
Russland bewegt sich zwischen diesen Positionen, weil sowohl die teilweise ernst verschuldete Bevölkerung als auch der von Ölexporten abhängige Staat die wirtschaftlichen Ressourcen nicht mehr einsetzen können oder wollen, um einen noch längeren Lockdown durchzuhalten. Tatsächlich hat Corona viele Menschen an ihre persönlichen Grenzen geführt. Eine Umfrage unter unseren Mitarbeitern hat ergeben, dass rund ein Drittel schnellstmöglich wieder aus der häuslichen Quarantäne ausbrechen und ins Büro zurückkehren möchte.
Ölpreisverfall behindert Entwicklung
Ein Ölpreis, der nachhaltig unter die Produktionskosten und den Finanzierungsansatz des Staatsbudgets sinkt, engt Russlands politischen Spielraum perspektivisch ein. Zwar könnte sich Russland durch den prall gefüllten Nationalfonds, hohe Gold- und Fremdwährungsreserven bei entsprechendem politischen Willen zusätzlichen Handlungsspielraum erkaufen, dazu würde man sich allerdings leichter entschließen, wenn in absehbarer Zeit eine realistische Aussicht auf einen steigenden Ölpreis bestünde.
Dennoch gilt: Selbst wenn alle wirtschaftlichen und sozialen Härten infolge der Coronakrise wieder überwunden sein werden, steht für Russland weiterhin zu befürchten, dass das Bruttosozialprodukt unterhalb des Durchschnitts der Schwellenländer und der Welt wächst. Neben ausstehenden Reformen im Inland werden dafür auch immer wieder die eingeschränkten, internationalen Wirtschaftsverflechtungen (einschließlich Sanktionen) und die Rohstoffabhängigkeit als Begründung angeführt. Reicht das als Erklärung?
Stabilität schlägt Freiheit
Es bedarf selbstverständlich eines unabdingbaren politischen Willens, um den Wohlstand für alle zu mehren. Den größten Beitrag dazu leistet bis heute essenziell das politisch konsequent verfolgte Ziel der gesellschaftlichen Stabilität. Dies wird von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung voll unterstützt und scheint der historische Weg zu sein, den Russland souverän beschreitet. Der Präsident zitiert regelmäßig seit 2010 den Philosophen Iwan Iljin, der Individualismus, Neuerung, Gleichheit und Wahrheit nicht gelten lässt. Mit Mythen und Beschwörung von Bedrohungen und Krisen lässt sich eine Politik „der Ewigkeit” (Snyder) fortsetzen, indem die Nation das zentrale Narrativ darstellt. Die Frage des gedeihlichen Zusammenlebens mit anderen Nationen steht dabei weniger im Vordergrund.
Die teils nachvollziehbaren, teils jedoch bedauerlichen Maßnahmen des Westens festigen paradoxerweise diese Mechanismen und Überzeugungen, indem sie die russische Nation zusammenrücken lassen. „Die Nation ist nicht Gott, aber ihre seelische Stärke kommt von Gott“, schrieb Iljin. Ich würde mir wünschen, dass ein Weg gefunden wird, diesen circulus vitiosus aufzulösen. Russland hat vor 75 Jahren großen Mut und unglaubliche Kraft bewiesen. Jetzt könnte es den Mut fassen, sich auf zukünftige Krisen noch besser vorzubereiten, und im Morgentau der Zeit etwas Neues aufzubauen. Und der Westen könnte dabei helfen und Russland noch mehr vertrauen.
Hansjürgen Overstolz President of Bosch Group in Russia, Belarus, Ukraine, Caucasus, Central Asia and Mongolia CEO Robert Bosch OOO (Moskau) & Robert Bosch Ltd. (Tiflis)
Overstolz kommentiert: Russland nach Corona – Was wird sich ändern?
Der Präsident der Bosch-Gruppe in Russland, Hansjürgen Overstolz, kommentiert die wirtschaftliche und politische Zukunft Russlands nach Corona.
Wenn wir etwas tiefschürfender über die Chancen nach Corona und die Zukunft Russland nachdenken wollen, dann möchte ich drei Phänomene ins Blickfeld nehmen. Die Bewältigung der Corona-Epidemie selbst ist das unmittelbarste Problem, aber darüber hinaus werden ihre Auswirkungen auch durch das eher geringere Wirtschaftswachstum des Landes – akzentuiert durch die fast gleichzeitig aufgetretene Ölkrise – zusätzlich verstärkt. Diese wirtschaftliche Ausgangslage führt uns letztlich an das tiefersitzende und größere Problem: Die politische Vision für Russland bleibt eine fundamentale und langfristige Herausforderung.
Mit entsprechenden Finanzmitteln lassen sich die Wirtschaftsprobleme nur vordergründig lösen, nachhaltig aber nur, wenn bei den handelnden Personen die notwendige Erkenntnis gereift ist, eine langfristige Wirtschaftsreform zu verfolgen und den bestehenden nationalen und internationalen Politikansatz weiterzuentwickeln.
Russlands Sonderweg?
Die Coronakrise stellt eine große Herausforderung dar, weil sie die Verantwortlichen zwingt, zwischen dem epidemiologisch Notwendigen und dem wirtschaftlich Machbaren eine geeignete Balance zu finden. Dafür gibt es keinen Königsweg, aber empirische Beobachtungen. In Russlands Nachbarländern Belarus, Georgien, Kasachstan und der Ukraine beugt man sich eher der wirtschaftlichen Notwendigkeit und versucht die Krise „mit der Zeit“ zu lösen. In Westeuropa nutzt man die größeren finanziellen Möglichkeiten, um mit einzelstaatlichen und gesamteuropäischen Milliarden Unterstützungen den Coronavirus unverzüglich und nachhaltig niederzuringen. Ob Russland mögliche, langfristige Kollateralschäden in den westlichen Gesellschaften, die vielleicht noch gar nicht überblickt werden können, unbewusst vermeidet, sei heute hoffnungsfroh dahingestellt.
Russland bewegt sich zwischen diesen Positionen, weil sowohl die teilweise ernst verschuldete Bevölkerung als auch der von Ölexporten abhängige Staat die wirtschaftlichen Ressourcen nicht mehr einsetzen können oder wollen, um einen noch längeren Lockdown durchzuhalten. Tatsächlich hat Corona viele Menschen an ihre persönlichen Grenzen geführt. Eine Umfrage unter unseren Mitarbeitern hat ergeben, dass rund ein Drittel schnellstmöglich wieder aus der häuslichen Quarantäne ausbrechen und ins Büro zurückkehren möchte.
Ölpreisverfall behindert Entwicklung
Ein Ölpreis, der nachhaltig unter die Produktionskosten und den Finanzierungsansatz des Staatsbudgets sinkt, engt Russlands politischen Spielraum perspektivisch ein. Zwar könnte sich Russland durch den prall gefüllten Nationalfonds, hohe Gold- und Fremdwährungsreserven bei entsprechendem politischen Willen zusätzlichen Handlungsspielraum erkaufen, dazu würde man sich allerdings leichter entschließen, wenn in absehbarer Zeit eine realistische Aussicht auf einen steigenden Ölpreis bestünde.
Dennoch gilt: Selbst wenn alle wirtschaftlichen und sozialen Härten infolge der Coronakrise wieder überwunden sein werden, steht für Russland weiterhin zu befürchten, dass das Bruttosozialprodukt unterhalb des Durchschnitts der Schwellenländer und der Welt wächst. Neben ausstehenden Reformen im Inland werden dafür auch immer wieder die eingeschränkten, internationalen Wirtschaftsverflechtungen (einschließlich Sanktionen) und die Rohstoffabhängigkeit als Begründung angeführt. Reicht das als Erklärung?
Stabilität schlägt Freiheit
Es bedarf selbstverständlich eines unabdingbaren politischen Willens, um den Wohlstand für alle zu mehren. Den größten Beitrag dazu leistet bis heute essenziell das politisch konsequent verfolgte Ziel der gesellschaftlichen Stabilität. Dies wird von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung voll unterstützt und scheint der historische Weg zu sein, den Russland souverän beschreitet. Der Präsident zitiert regelmäßig seit 2010 den Philosophen Iwan Iljin, der Individualismus, Neuerung, Gleichheit und Wahrheit nicht gelten lässt. Mit Mythen und Beschwörung von Bedrohungen und Krisen lässt sich eine Politik „der Ewigkeit” (Snyder) fortsetzen, indem die Nation das zentrale Narrativ darstellt. Die Frage des gedeihlichen Zusammenlebens mit anderen Nationen steht dabei weniger im Vordergrund.
Die teils nachvollziehbaren, teils jedoch bedauerlichen Maßnahmen des Westens festigen paradoxerweise diese Mechanismen und Überzeugungen, indem sie die russische Nation zusammenrücken lassen. „Die Nation ist nicht Gott, aber ihre seelische Stärke kommt von Gott“, schrieb Iljin. Ich würde mir wünschen, dass ein Weg gefunden wird, diesen circulus vitiosus aufzulösen. Russland hat vor 75 Jahren großen Mut und unglaubliche Kraft bewiesen. Jetzt könnte es den Mut fassen, sich auf zukünftige Krisen noch besser vorzubereiten, und im Morgentau der Zeit etwas Neues aufzubauen. Und der Westen könnte dabei helfen und Russland noch mehr vertrauen.
Hansjürgen Overstolz
President of Bosch Group in Russia, Belarus, Ukraine, Caucasus, Central Asia and Mongolia
CEO Robert Bosch OOO (Moskau) & Robert Bosch Ltd. (Tiflis)