Die Auswirkungen
der Corona-Pandemie und unterschiedliche
Ansätze zur Bekämpfung der Krise bleiben weiterhin im Mittelpunkt der
Betrachtung von Experten aus Politik und Wirtschaft.
Die gegenwärtige offizielle Prognose des russischen
Wirtschaftsministeriums mit einer erwarteten Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts
um fünf Prozent im Jahre 2020 wird allgemein als viel zu zuversichtlich
bewertet, selbst wenn es zu einer zweiten Welle des Coronavirus nicht kommen
sollte. Falls sich aber die epidemiologische Lage im Spätsommer und im Herbst
wieder verschärft, was eine Wiederaufnahme von
Lockdown-Maßnahmen landesweit erforderlich machen könnte,
dürfte der Rückgang des russischen BIP mit bis zu zehn Prozent noch stärker
ausfallen. Ebenso schwer zu bewerten ist auch die Arbeitslosenquote, die
zwischen 6,1 Prozent laut amtlicher Statistik bis zu über 14 Prozent laut
einigen akademischen Schätzungen
betragen könnte.
Welche
Unterstützungsmaßnahmen sind sinnvoll?
Bei der Analyse der wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur
Bekämpfung der Krisenauswirkungen wird häufig behauptet, das Ausmaß der
direkten Hilfsleistungen an private Haushalte sowie kleinere und
mittelständische Unternehmen sei in Russland deutlich geringer als in
westlichen Ländern, wo direkte Ausgaben an die Bevölkerung bis zu zehn Prozent
des BIP betragen. Außer der von der russischen Regierung verabschiedeten
Zahlung an bestimmte Zielgruppen, insbesondere an
Eltern mit Kindern, sei in diesem Zusammenhang auf die von der russischen
Zentralbank am 19. Juni durchgeführte Senkung des Leitzinssatzes von 5,5 Prozent
auf 4,5 Prozent hinzuweisen. Selbst diese, seit
Bestehen der russischen Währungshüter stärkste
Leitzinssenkung, wird aber kaum zu einer deutlichen Belebung der
Kreditnachfrage führen, u.a. weil weite Teile der russischen Bevölkerung mit
niedrigen Einkommen hochverschuldet sind und kaum Zugang zum regulären
Kreditmarkt haben, genau wie viele
Kleinunternehmen über sehr begrenzte Pfandmöglichkeiten verfügen. Die
Entscheidung, kein „Helikoptergeld“ auszuschütten, wird häufig durch knappere
Ressourcen im Vergleich zu den westlichen Volkswirtschaften gerechtfertigt. Doch es sollte auch kritisch betrachtet
werden, inwieweit die Bevölkerung eines Landes bereit und überhaupt fähig ist, die verabschiedete Wirtschaftspolitik
mitzutragen.
Unterschiedliche
Krisenwahrnehmung
Dabei werden aber psychologische Aspekte der Krise und
Erfahrungen aus der Vergangenheit häufig vehement unterschätzt. Die meisten
Generationen von Russen, mit Ausnahme der seit 1990 Geborenen, erinnern sich noch an mehrere Wirtschaftskrisen seit
Anfang der 1990er Jahre, die für breite Schichten der Bevölkerung verheerende
Folgen hatten. Weder die direkten gesundheitlichen Folgen der Pandemie noch
ihre indirekten Auswirkungen auf den ökonomischen Wohlstand haben bisher die
negativen Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte übertroffen. Dagegen stellt
die gegenwärtige Corona-Krise zweifellos die stärkste Herausforderung
für die westeuropäischen Länder seit der Nachkriegszeit und für die USA gar
seit den Zeiten der „Great Depression“ dar.
Dieser Vergleich spiegelt sich auch in der
subjektiven Wahrnehmung der Corona-Krise in Russland im Vergleich zu westlichen
Ländern wider.
Um die Unterschiede in der Bewertung von potentiellen
Wohlfahrtsverlusten zu beschreiben, empfiehlt es sich, die statistischen Werte
eines Menschenlebens – eines von Lebensversicherungsunternehmen aufgrund von
objektiv beobachtbaren Daten weltweit geschätzten Indikators – zu vergleichen.
Nicht unerwartet ist die einkommensangepasste Marktbewertung eines menschlichen
Lebens in den USA mit 9,63 Millionen US-Dollar höher als in Westeuropa
(Deutschland: 7,9 Millionen US-Dollar) und beträgt gar das Fünffache des
russischen Wertes von 1,97 Millionen US-Dollar. Die Staatausgaben in Höhe von
zehn Prozent des BIP entsprechen somit dem Wert von etwa 250.000 Menschenleben
in den USA und etwa 500.000 Menschenleben in Deutschland, wobei die Anzahl der
durch die Maßnahmen geretteten Leben deutlich
höher eingeschätzt wird, was die Lockdown-Ausgaben vollkommen rechtfertigt. Ein
entsprechender Vergleich für Russland würde aber bedeuten, dass noch höhere
Staatsausgaben selbst bei einer potenziellen Chance, die Anzahl der Opfer noch etwas zu verringern, aus ökonomischer
Perspektive kaum gerechtfertigt wären.
Sonderfall
Russland
An dieser Stelle ist auch zu erwähnen, dass das Leben
eines durchschnittlichen Russen auch außerhalb von Krisenzeiten durch viele,
häufig unerwartete Änderungen geprägt war und bleibt, was eine wesentlich
niedrigere Empfindlichkeitstufe gegenüber Risikosituationen im Vergleich zu
westlichen Bevölkerungen erklären könnte. So beweisen die auf Umfragewerten des
auf Gallup World basierenden empirischen Wirtschaftsstudien, dass der
statistisch geschätzte Koeffizient der Risikoaversion unter Russen deutlich
geringer ist als in den meisten Ländern der Alt-EU und in den USA. Laut
aktuellen Studien auf dem Gebiet der „Glücksforschung“ („happiness economics“) kann sogar die subjektive Wahrnehmung des Wohlstands
im Falle stark ausgeprägter Fluktuationen von einer Abneigung gegenüber Risiken
stark beeinflusst werden.
Damit kann eine „risikofreudige“ Nation selbst bei einem
schwereren Wirtschaftseinbruch politisch und gesellschaftlich relativ stabil
bleiben, während sich in einer Völkergemeinschaft mit ernsterer Abneigung
gegenüber Risiken ungünstige Entwicklungen heftiger niederschlagen können. Die
gegenwärtige Gesellschaftskrise in den USA könnte dies belegen, weil die
politische Stabilität der ganzen Nation aufgrund von gravierenden Konflikten
von Wertesystemen auf der Kippe steht.
Doch die oben erwähnte anscheinend vorhandene Bereitschaft der Russen, auch in schweren Wirtschaftskrisen durchzuhalten, sollte nicht überbewertet werden. Sowohl der Westen als auch Russland stehen vor der gleichen Herausforderung der Corona-Pandemie, und es wäre sicherlich im allgemeinen Interesse, Solidarität und Kooperation in möglichst vielen Bereichen voranzutreiben, was Industrie und Wirtschaft zweifellos unterstützen würden. Doch dazu mag es eines viel höheren Vertrauensniveaus auf der politischen Ebene sowie einer Bereitschaft bedürfen, auf destruktive Maßnahmen wie in den vergangenen Jahren zu verzichten.
Ilja Neustadt, Dr. oec. publ., Associate Professor an der Präsidenten-Akademie RANEPA in Moskau(Russian Academy for National Economy and Public Administration)
Neustadt kommentiert: Ökonomische Corona-Folgen und die Relevanz von Verhaltensfaktoren
Die Auswirkungen der Corona-Pandemie und unterschiedliche Ansätze zur Bekämpfung der Krise bleiben weiterhin im Mittelpunkt der Betrachtung von Experten aus Politik und Wirtschaft.
Die gegenwärtige offizielle Prognose des russischen Wirtschaftsministeriums mit einer erwarteten Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts um fünf Prozent im Jahre 2020 wird allgemein als viel zu zuversichtlich bewertet, selbst wenn es zu einer zweiten Welle des Coronavirus nicht kommen sollte. Falls sich aber die epidemiologische Lage im Spätsommer und im Herbst wieder verschärft, was eine Wiederaufnahme von Lockdown-Maßnahmen landesweit erforderlich machen könnte, dürfte der Rückgang des russischen BIP mit bis zu zehn Prozent noch stärker ausfallen. Ebenso schwer zu bewerten ist auch die Arbeitslosenquote, die zwischen 6,1 Prozent laut amtlicher Statistik bis zu über 14 Prozent laut einigen akademischen Schätzungen betragen könnte.
Welche Unterstützungsmaßnahmen sind sinnvoll?
Bei der Analyse der wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Krisenauswirkungen wird häufig behauptet, das Ausmaß der direkten Hilfsleistungen an private Haushalte sowie kleinere und mittelständische Unternehmen sei in Russland deutlich geringer als in westlichen Ländern, wo direkte Ausgaben an die Bevölkerung bis zu zehn Prozent des BIP betragen. Außer der von der russischen Regierung verabschiedeten Zahlung an bestimmte Zielgruppen, insbesondere an Eltern mit Kindern, sei in diesem Zusammenhang auf die von der russischen Zentralbank am 19. Juni durchgeführte Senkung des Leitzinssatzes von 5,5 Prozent auf 4,5 Prozent hinzuweisen. Selbst diese, seit Bestehen der russischen Währungshüter stärkste Leitzinssenkung, wird aber kaum zu einer deutlichen Belebung der Kreditnachfrage führen, u.a. weil weite Teile der russischen Bevölkerung mit niedrigen Einkommen hochverschuldet sind und kaum Zugang zum regulären Kreditmarkt haben, genau wie viele Kleinunternehmen über sehr begrenzte Pfandmöglichkeiten verfügen. Die Entscheidung, kein „Helikoptergeld“ auszuschütten, wird häufig durch knappere Ressourcen im Vergleich zu den westlichen Volkswirtschaften gerechtfertigt. Doch es sollte auch kritisch betrachtet werden, inwieweit die Bevölkerung eines Landes bereit und überhaupt fähig ist, die verabschiedete Wirtschaftspolitik mitzutragen.
Unterschiedliche Krisenwahrnehmung
Dabei werden aber psychologische Aspekte der Krise und Erfahrungen aus der Vergangenheit häufig vehement unterschätzt. Die meisten Generationen von Russen, mit Ausnahme der seit 1990 Geborenen, erinnern sich noch an mehrere Wirtschaftskrisen seit Anfang der 1990er Jahre, die für breite Schichten der Bevölkerung verheerende Folgen hatten. Weder die direkten gesundheitlichen Folgen der Pandemie noch ihre indirekten Auswirkungen auf den ökonomischen Wohlstand haben bisher die negativen Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte übertroffen. Dagegen stellt die gegenwärtige Corona-Krise zweifellos die stärkste Herausforderung für die westeuropäischen Länder seit der Nachkriegszeit und für die USA gar seit den Zeiten der „Great Depression“ dar. Dieser Vergleich spiegelt sich auch in der subjektiven Wahrnehmung der Corona-Krise in Russland im Vergleich zu westlichen Ländern wider.
Um die Unterschiede in der Bewertung von potentiellen Wohlfahrtsverlusten zu beschreiben, empfiehlt es sich, die statistischen Werte eines Menschenlebens – eines von Lebensversicherungsunternehmen aufgrund von objektiv beobachtbaren Daten weltweit geschätzten Indikators – zu vergleichen. Nicht unerwartet ist die einkommensangepasste Marktbewertung eines menschlichen Lebens in den USA mit 9,63 Millionen US-Dollar höher als in Westeuropa (Deutschland: 7,9 Millionen US-Dollar) und beträgt gar das Fünffache des russischen Wertes von 1,97 Millionen US-Dollar. Die Staatausgaben in Höhe von zehn Prozent des BIP entsprechen somit dem Wert von etwa 250.000 Menschenleben in den USA und etwa 500.000 Menschenleben in Deutschland, wobei die Anzahl der durch die Maßnahmen geretteten Leben deutlich höher eingeschätzt wird, was die Lockdown-Ausgaben vollkommen rechtfertigt. Ein entsprechender Vergleich für Russland würde aber bedeuten, dass noch höhere Staatsausgaben selbst bei einer potenziellen Chance, die Anzahl der Opfer noch etwas zu verringern, aus ökonomischer Perspektive kaum gerechtfertigt wären.
Sonderfall Russland
An dieser Stelle ist auch zu erwähnen, dass das Leben eines durchschnittlichen Russen auch außerhalb von Krisenzeiten durch viele, häufig unerwartete Änderungen geprägt war und bleibt, was eine wesentlich niedrigere Empfindlichkeitstufe gegenüber Risikosituationen im Vergleich zu westlichen Bevölkerungen erklären könnte. So beweisen die auf Umfragewerten des auf Gallup World basierenden empirischen Wirtschaftsstudien, dass der statistisch geschätzte Koeffizient der Risikoaversion unter Russen deutlich geringer ist als in den meisten Ländern der Alt-EU und in den USA. Laut aktuellen Studien auf dem Gebiet der „Glücksforschung“ („happiness economics“) kann sogar die subjektive Wahrnehmung des Wohlstands im Falle stark ausgeprägter Fluktuationen von einer Abneigung gegenüber Risiken stark beeinflusst werden.
Damit kann eine „risikofreudige“ Nation selbst bei einem schwereren Wirtschaftseinbruch politisch und gesellschaftlich relativ stabil bleiben, während sich in einer Völkergemeinschaft mit ernsterer Abneigung gegenüber Risiken ungünstige Entwicklungen heftiger niederschlagen können. Die gegenwärtige Gesellschaftskrise in den USA könnte dies belegen, weil die politische Stabilität der ganzen Nation aufgrund von gravierenden Konflikten von Wertesystemen auf der Kippe steht.
Doch die oben erwähnte anscheinend vorhandene Bereitschaft der Russen, auch in schweren Wirtschaftskrisen durchzuhalten, sollte nicht überbewertet werden. Sowohl der Westen als auch Russland stehen vor der gleichen Herausforderung der Corona-Pandemie, und es wäre sicherlich im allgemeinen Interesse, Solidarität und Kooperation in möglichst vielen Bereichen voranzutreiben, was Industrie und Wirtschaft zweifellos unterstützen würden. Doch dazu mag es eines viel höheren Vertrauensniveaus auf der politischen Ebene sowie einer Bereitschaft bedürfen, auf destruktive Maßnahmen wie in den vergangenen Jahren zu verzichten.
Ilja Neustadt, Dr. oec. publ., Associate Professor an der Präsidenten-Akademie RANEPA in Moskau(Russian Academy for National Economy and Public Administration)