Chinas Neue Seidenstraße – sieben Jahre nach dem Start ist es Zeit für eine Bestandsaufnahme. Wie läuft die Umsetzung des Megaprojekts? Wer profitiert, wer trägt die Risiken?
Die Ankündigung des chinesischen Staats- und Parteichefs Xi Jinping im Oktober 2013, eine Neue Seidenstraße mit Überlandtransportkorridoren und maritimen Handelsrouten aufbauen zu wollen, war eingebettet in das Narrativ einer kooperativen, gemeinsam Wohlstand schaffenden und dem Frieden verpflichteten Außenpolitik. Insbesondere die USA, aber auch die anderen altetablierten Handelsmächte in Europa und Asien haben dieses Narrativ nicht akzeptiert und die chinesische Initiative vielmehr als Herausforderung der bestehenden Mächteverteilung interpretiert.
Chinas Narrativ und abweichende Perzeptionen Insbesondere im Zuge der sich zuspitzenden Handelskonflikte zwischen Washington und Peking sowie der immer wieder neue Eskalationsstufen erreichenden territorialen Dispute im Südchinesischen Meer zwischen China und den südostasiatischen Inselstaaten ist der „chinesischen“ Narration in der US-amerikanischen Debatte ein eher düsteres Chinabild entgegengestellt worden. Der Blick der europäischen Staaten auf China ist weitaus differenzierter, reflektiert die handelsstrategischen Chancen und Möglichkeiten, ohne die Risiken auszublenden. Insbesondere die Staaten Mittel- und Osteuropas, die mit China seit 2012 ein gesondertes Kooperationsformat unterhalten (seit dem Beitritt Griechenlands als „17+1“-Treffen tituliert), sehen in Pekings Investitionsofferten einen Weg, die konditionalen Infrastrukturförderungsmaßnahmen der Europäischen Union zu ihren Gunsten nachzuverhandeln.
Vor diesem Hintergrund ist von Kommentatoren der bislang führenden Mächte das Schlagwort eines „chinesischen Marshall-Plans“ geprägt worden. Hiermit wird zum einen auf die massiven Finanzmittel, das umfassende unternehmerische Engagement und die intensiven diplomatischen Anstrengungen, die seitens Chinas in das Projekt Neue Seidenstraße investiert werden, Bezug genommen. Zum anderen greift die Terminologie aber auch eine versteckte Angst auf. Denn der originäre Marshall-Plan legte nicht nur das Fundament für den Wiederaufbau des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Europas, sondern schuf auch die Basis für die ordnungspolitisch-institutionelle Ausrichtung Europas und dessen Verankerung in einer amerikanisch geführten (Teil-)Weltordnung. Die Frage steht im Raum, welche Wertvorstellungen und Strukturbildung ein „chinesischer Marshall-Plan“ transportieren würde.
Ökonomische Visionen und Realitäten In Anbetracht der erheblichen Ressourcen, die bislang in das Projekt Neue Seidenstraße geflossen sind, bleiben die Ergebnisse ernüchternd. Zwar sind die Laufzeiten für Güterzüge, die China mit zentralen Städten Europas verbinden, reduziert worden. Während die Züge vollbeladen Europa erreichen, rollen sie jedoch oftmals unterausgelastet nach China zurück. Mehr als 80 Industriezonen sind entlang der Bahntrassen und Schifffahrtsrouten gegründet worden. Ihr Versprechen einer intensiven Einbindung der lokalen Volkswirtschaften in einen neuen Eurasischen Wirtschaftsraum, in dem China und Europa an den östlichen und westlichen Polen als Wachstums- und Entwicklungsmotoren fungieren, muss aber erst noch substantiiert werden.
Chinesische Unternehmen sind weltweit als Investoren aktiv – dieses Engagement hat allerdings bereits lange vor der offiziellen Proklamation der Neuen Seidenstraße eingesetzt. Gerade in Europa bleibt die Zahl neuer Projekte relativ überschaubar – wenngleich auch Chinas Pachtvertrag für den Hafen in Piräus (mit einer symbolischen Laufzeit von 99 Jahren) oder der Bau der Belgrad-Budapest-Piräus-Eisenbahn für Schlagzeilen gesorgt haben. Der aus Sicht Ost- und Südeuropas erwartete Wirtschaftsboom qua Einbindung in Pekings Seidenstraßen-Initiative ist bislang weitgehend ausgeblieben. Insgesamt ziehen viele europäische Firmen die bittere Bilanz, dass die Neue Seidenstraße primär der chinesischen Seite zugutekomme. Die entsprechenden Aufträge für Infrastrukturprojekte entlang der Handelskorridore der Neuen Seidenstraße sind größtenteils an chinesische Staatsunternehmen vergeben worden. Und die erhoffte allgemeine Belebung der Wirtschaftsdynamik lässt noch auf sich warten. Wenngleich diese Enttäuschung auf der einen Seite nachvollziehbar ist, so scheint diese durch falsche Erwartungen und ein naives Chinabild verursacht worden zu sein. China hat die OECD-Standards zur Vergabe von Entwicklungshilfe nie akzeptiert und sieht kein Fehl darin, chinesisch finanzierte Projekte auch von chinesischen Unternehmen ausführen zu lassen.
„Die Enttäuschung ist auf der einen Seite nachvollziehbar, sie scheint jedoch durch falsche Erwartungen und ein naives Chinabild verursacht worden zu sein.“
Neue Seidenstraße als Innovationstreiber Die Neuausrichtung des chinesischen Wirtschaftsmodells muss den Übergang von dem auf Imitation begründeten Entwicklungsmodell „nachholenden Wachstums“ zu endogener Innovationsleistung vollziehen. Bis 2030 plant die VR China so zum Beispiel, die USA in puncto Innovationskapazitäten im Bereich der Künstlichen Intelligenz übertroffen zu haben. Für die Realisierung derartiger Ziele ist die Etablierung einer Neuen Seidenstraße instrumental. Denn diese steht für weit mehr als den Aufbau von Transportinfrastruktur. Chinas Infrastrukturprogramme beinhalten auch Paketlösungen im Bereich der Strom-, Wasser- und Telekommunikationsinfrastruktur. Letztere umfasst neben chinesischen Hardware-Lösungen auch die Bereitstellung chinesischer Software.
Nicht ohne Grund wird Chinas Interesse an einer Mitwirkung am Aufbau der globalen 5G-Netze gerade in den USA als sicherheitspolitische Bedrohung eingestuft. 5G-Netze sind die Grundlage für die Umstellung auf smarte Lösungen, beispielsweise im Bereich des autonomen Fahrens, der Selbststeuerung von urbanen Strom-, Wasser- und Verkehrsnetzen sowie nicht zuletzt der modernen Landwirtschaft. Um smarte Lösungen anbieten zu können, die global einsetzbar wären, sind jedoch Big Data zum Nutzerverhalten in Ländern und Regionen jenseits der VR China erforderlich. Über Pilotprojekte und Kooperationen versuchen chinesische Unternehmen daher, ihre Datensätze entsprechend zu erweitern und die Algorithmen selbstlernender smarter Paketlösungen entsprechend zu optimieren.
Zudem ist China insbesondere in Afrika und Lateinamerika am Aufbau der lokalen Telekommunikationsinfrastruktur beteiligt – und mit seinen verhältnismäßig kostengünstigen Hardware- und Software-Lösungen vielerorts zum Marktführer aufgestiegen. Dies sichert Folgeaufträge für die chinesische Wirtschaft, die nicht nur finanzielle Einkünfte generieren und kontinuierlichen Datenzugang ermöglichen. Hierdurch werden auch Pfadabhängigkeiten aufgebaut, die chinesische Technologiestandards in diesen Volkswirtschaften verankern und die Wertigkeit chinesischer Patente massiv erhöhen.
Die Ausweitung des chinesischen Engagements und Einflusses entlang der Neuen Seidenstraße ist auch in den teilnehmenden Volkswirtschaften nicht ohne Widerstand geblieben. Immer wieder ist es in den vergangenen Jahren auch zu antichinesischen Protesten und gewaltsamen Anfeindungen gekommen. Ursächlich hierfür sind unter anderem eine oftmals eklatant ungleiche Teilhabe gesellschaftlicher Gruppen an den Wohlfahrtsgewinnen und und Kosten der Projekte rund um die Neue Seidenstraße.
Widerstand ist aber auch in den entscheidungstragenden Eliten aufgekommen. Dies insbesondere in wirtschaftlich schwachen Ländern und Regionen, die einerseits auf die Wachstumsimpulse chinesischer Investitionen angewiesen wären, andererseits nun aber eine übermäßige Abhängigkeit von und Erpressbarkeit durch chinesische Akteure fürchten.
Die Furcht, durch exzessive Verschuldung von China in eine Schuldenfalle zu geraten, hat in einzelnen Staaten Afrikas und Südostasiens entweder Schockstarre hervorgerufen oder aber zur unilateralen Stornierung von Projekten mit chinesischen Partnern geführt. Dabei ist aber der als wohl ursächlich für diese negative Stimmung anzuführende Fall der Verpachtung der Hafenanlagen von Hambantota (Sri Lanka) für 99 Jahre an chinesische Betreiber bei näherer Analyse eher das Fanal, das eine Wiederholung derartiger Praktiken ausschließen sollte. Die hier zugeschnappte Schuldenfalle bedient einen kommerziellen Reflex der Kreditbesicherung bei Zahlungsausfall. Sie reflektiert aber nicht die Interessen einer langfristig ausgerichteten chinesischen Geopolitik. Derartige Maßnahmen rufen massiven Widerstand in der lokalen Bevölkerung hervor, gefährden den Herrschaftsanspruch chinafreundlicher Eliten und engen letztlich den Handlungsspielraum chinesischer Akteure ein. Chinesische Unternehmen und Regierungsvertreter haben von daher ein beträchtliches Eigeninteresse, derartige Maßnahmen zur Sicherung eigener Finanzierungen in Zukunft nicht wieder einzusetzen.
Proteste entzünden sich aber auch an den ökologischen Folgen diverser Projekte entlang der Neuen Seidenstraße. Umwelt-NGOs haben ihre Zweifel an der Nachhaltigkeit chinesisch geführter Projekte angemeldet. Hierauf hat die chinesische Seite zwar umgehend mit einer Selbstverpflichtung zum Prinzip der grünen Entwicklung und grünen Investitionsstrategie reagiert. Die Vorwürfe, dass hier ein „green washing“ betrieben werde, sind aber insofern nicht ganz von der Hand zu weisen, als dass die VR China zum Beispiel nicht nur grüne Technologien entlang ihrer Seidenstraßenkorridore exportiert – sondern weltweit Kohlekraftwerke baut.
Zwischenbilanz und Ausblick Chinas Neue-Seidenstraßen-Initiative hat das Stadium einer euphorischen Aufbruchsstimmung verlassen und ist mittlerweile in der Realität der operativen Umsetzung angekommen. Und hier tauchen zahlreiche Probleme auf, die in der großen Vision übersehen worden sind. Hatte die Maxime der VR China seit 2013 zunächst maximale Diversifizierung der Wirtschafts- und Handelskooperationsstrukturen gelautet, zeichnen sich seit der Debatte über die Schuldenfallen der Seidenstraße bedächtigere Züge ab. Wachsende Sicherheitsrisiken führen außerdem dazu, dass die Dynamik der Projektumsetzung nachlässt. Bürgerkriege und Unruhen entlang der von China initiierten Seidenstraßen-Korridore bedeuten ein Sicherheitsrisiko für die dort agierenden chinesischen Individuen, Unternehmen und Banken – und könnten zentrale transkontinentale Versorgungsrouten über lange Zeit unterbrechen. Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie hat sich allerdings Chinas Sicherheitsperzeption erneut verschoben. Es sind nicht länger allein bewaffnete Konflikte entlang der Seidenstraßen-Korridore, sondern die immanente Gefahr eines (Re-)Imports des Corona-Virus, die zu einer temporären Einstellung beziehungsweise partiellen Reduzierung der chinesischen Bau- und Investitionseuphorie im Ausland geführt haben. Offiziell hält China an der Idee der Seidenstraße und der Umsetzung des großen Projektes der Bildung eines transeurasischen Wirtschaftsraums fest – der Zeitplan zur Implementierung ist jedoch substanziell über die Zeitachse gestreckt worden.
Einen Marshall-Plan hat die VR China mit der Neuen Seidenstraße nicht vorgelegt. Das wollte sie auch nie. Chinesische Analysten haben die Idee westlicher Kommentatoren, die Neue-Seidenstraßen-Initiative mit dem Marshall-Plan zu vergleichen, immer abgelehnt und auf die unterschiedlichen politischen (System-)Hintergründe hingewiesen. Die Teilnahme an der Initiative steht formal allen Staaten offen und ist weder an die Strukturen des jeweiligen Wirtschaftssystems noch an die Beschaffenheit des politischen Regimes gekoppelt. Eine exklusive Ausrichtung an chinesischen Vorlagen ist – im offiziellen Duktus – nicht intendiert. Dessen ungeachtet: Im Rahmen der Neuen-Seidenstraßen-Initiative kommt es sehr wohl zu einer Verbreitung chinesischer Wertvorstellungen und technologischer Standards, zudem werden chinesische Führungsansprüche zementiert – ganz ähnlich wie einst beim Marshall-Plan zugunsten der USA.
Nele Noesselt ist Inhaberin des Lehrstuhls für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt China/Ostasien an der Universität Duisburg-Essen. nele.noesselt@uni-due.de
Markus Taube ist Inhaber des Lehrstuhls für Ostasienwirtschaft/China an der Mercator School of Management, Universität Duisburg-Essen. markus.taube@uni-due.de
Chinas Neue Seidenstraße: Ein Marshall-Plan für die Welt?
Chinas Neue Seidenstraße – sieben Jahre nach dem Start ist es Zeit für eine Bestandsaufnahme. Wie läuft die Umsetzung des Megaprojekts? Wer profitiert, wer trägt die Risiken?
Die Ankündigung des chinesischen Staats- und Parteichefs Xi Jinping im Oktober 2013, eine Neue Seidenstraße mit Überlandtransportkorridoren und maritimen Handelsrouten aufbauen zu wollen, war eingebettet in das Narrativ einer kooperativen, gemeinsam Wohlstand schaffenden und dem Frieden verpflichteten Außenpolitik. Insbesondere die USA, aber auch die anderen altetablierten Handelsmächte in Europa und Asien haben dieses Narrativ nicht akzeptiert und die chinesische Initiative vielmehr als Herausforderung der bestehenden Mächteverteilung interpretiert.
Chinas Narrativ und abweichende Perzeptionen
Insbesondere im Zuge der sich zuspitzenden Handelskonflikte zwischen Washington und Peking sowie der immer wieder neue Eskalationsstufen erreichenden territorialen Dispute im Südchinesischen Meer zwischen China und den südostasiatischen Inselstaaten ist der „chinesischen“ Narration in der US-amerikanischen Debatte ein eher düsteres Chinabild entgegengestellt worden. Der Blick der europäischen Staaten auf China ist weitaus differenzierter, reflektiert die handelsstrategischen Chancen und Möglichkeiten, ohne die Risiken auszublenden. Insbesondere die Staaten Mittel- und Osteuropas, die mit China seit 2012 ein gesondertes Kooperationsformat unterhalten (seit dem Beitritt Griechenlands als „17+1“-Treffen tituliert), sehen in Pekings Investitionsofferten einen Weg, die konditionalen Infrastrukturförderungsmaßnahmen der Europäischen Union zu ihren Gunsten nachzuverhandeln.
Vor diesem Hintergrund ist von Kommentatoren der bislang führenden Mächte das Schlagwort eines „chinesischen Marshall-Plans“ geprägt worden. Hiermit wird zum einen auf die massiven Finanzmittel, das umfassende unternehmerische Engagement und die intensiven diplomatischen Anstrengungen, die seitens Chinas in das Projekt Neue Seidenstraße investiert werden, Bezug genommen. Zum anderen greift die Terminologie aber auch eine versteckte Angst auf. Denn der originäre Marshall-Plan legte nicht nur das Fundament für den Wiederaufbau des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Europas, sondern schuf auch die Basis für die ordnungspolitisch-institutionelle Ausrichtung Europas und dessen Verankerung in einer amerikanisch geführten (Teil-)Weltordnung. Die Frage steht im Raum, welche Wertvorstellungen und Strukturbildung ein „chinesischer Marshall-Plan“ transportieren würde.
Ökonomische Visionen und Realitäten
In Anbetracht der erheblichen Ressourcen, die bislang in das Projekt Neue Seidenstraße geflossen sind, bleiben die Ergebnisse ernüchternd. Zwar sind die Laufzeiten für Güterzüge, die China mit zentralen Städten Europas verbinden, reduziert worden. Während die Züge vollbeladen Europa erreichen, rollen sie jedoch oftmals unterausgelastet nach China zurück. Mehr als 80 Industriezonen sind entlang der Bahntrassen und Schifffahrtsrouten gegründet worden. Ihr Versprechen einer intensiven Einbindung der lokalen Volkswirtschaften in einen neuen Eurasischen Wirtschaftsraum, in dem China und Europa an den östlichen und westlichen Polen als Wachstums- und Entwicklungsmotoren fungieren, muss aber erst noch substantiiert werden.
Chinesische Unternehmen sind weltweit als Investoren aktiv – dieses Engagement hat allerdings bereits lange vor der offiziellen Proklamation der Neuen Seidenstraße eingesetzt. Gerade in Europa bleibt die Zahl neuer Projekte relativ überschaubar – wenngleich auch Chinas Pachtvertrag für den Hafen in Piräus (mit einer symbolischen Laufzeit von 99 Jahren) oder der Bau der Belgrad-Budapest-Piräus-Eisenbahn für Schlagzeilen gesorgt haben. Der aus Sicht Ost- und Südeuropas erwartete Wirtschaftsboom qua Einbindung in Pekings Seidenstraßen-Initiative ist bislang weitgehend ausgeblieben. Insgesamt ziehen viele europäische Firmen die bittere Bilanz, dass die Neue Seidenstraße primär der chinesischen Seite zugutekomme. Die entsprechenden Aufträge für Infrastrukturprojekte entlang der Handelskorridore der Neuen Seidenstraße sind größtenteils an chinesische Staatsunternehmen vergeben worden. Und die erhoffte allgemeine Belebung der Wirtschaftsdynamik lässt noch auf sich warten. Wenngleich diese Enttäuschung auf der einen Seite nachvollziehbar ist, so scheint diese durch falsche Erwartungen und ein naives Chinabild verursacht worden zu sein. China hat die OECD-Standards zur Vergabe von Entwicklungshilfe nie akzeptiert und sieht kein Fehl darin, chinesisch finanzierte Projekte auch von chinesischen Unternehmen ausführen zu lassen.
„Die Enttäuschung ist auf der einen Seite nachvollziehbar, sie scheint jedoch durch falsche Erwartungen und ein naives Chinabild verursacht worden zu sein.“
Neue Seidenstraße als Innovationstreiber
Die Neuausrichtung des chinesischen Wirtschaftsmodells muss den Übergang von dem auf Imitation begründeten Entwicklungsmodell „nachholenden Wachstums“ zu endogener Innovationsleistung vollziehen. Bis 2030 plant die VR China so zum Beispiel, die USA in puncto Innovationskapazitäten im Bereich der Künstlichen Intelligenz übertroffen zu haben. Für die Realisierung derartiger Ziele ist die Etablierung einer Neuen Seidenstraße instrumental. Denn diese steht für weit mehr als den Aufbau von Transportinfrastruktur. Chinas Infrastrukturprogramme beinhalten auch Paketlösungen im Bereich der Strom-, Wasser- und Telekommunikationsinfrastruktur. Letztere umfasst neben chinesischen Hardware-Lösungen auch die Bereitstellung chinesischer Software.
Nicht ohne Grund wird Chinas Interesse an einer Mitwirkung am Aufbau der globalen 5G-Netze gerade in den USA als sicherheitspolitische Bedrohung eingestuft. 5G-Netze sind die Grundlage für die Umstellung auf smarte Lösungen, beispielsweise im Bereich des autonomen Fahrens, der Selbststeuerung von urbanen Strom-, Wasser- und Verkehrsnetzen sowie nicht zuletzt der modernen Landwirtschaft. Um smarte Lösungen anbieten zu können, die global einsetzbar wären, sind jedoch Big Data zum Nutzerverhalten in Ländern und Regionen jenseits der VR China erforderlich. Über Pilotprojekte und Kooperationen versuchen chinesische Unternehmen daher, ihre Datensätze entsprechend zu erweitern und die Algorithmen selbstlernender smarter Paketlösungen entsprechend zu optimieren.
Zudem ist China insbesondere in Afrika und Lateinamerika am Aufbau der lokalen Telekommunikationsinfrastruktur beteiligt – und mit seinen verhältnismäßig kostengünstigen Hardware- und Software-Lösungen vielerorts zum Marktführer aufgestiegen. Dies sichert Folgeaufträge für die chinesische Wirtschaft, die nicht nur finanzielle Einkünfte generieren und kontinuierlichen Datenzugang ermöglichen. Hierdurch werden auch Pfadabhängigkeiten aufgebaut, die chinesische Technologiestandards in diesen Volkswirtschaften verankern und die Wertigkeit chinesischer Patente massiv erhöhen.
Die Ausweitung des chinesischen Engagements und Einflusses entlang der Neuen Seidenstraße ist auch in den teilnehmenden Volkswirtschaften nicht ohne Widerstand geblieben. Immer wieder ist es in den vergangenen Jahren auch zu antichinesischen Protesten und gewaltsamen Anfeindungen gekommen. Ursächlich hierfür sind unter anderem eine oftmals eklatant ungleiche Teilhabe gesellschaftlicher Gruppen an den Wohlfahrtsgewinnen und und Kosten der Projekte rund um die Neue Seidenstraße.
Widerstand ist aber auch in den entscheidungstragenden Eliten aufgekommen. Dies insbesondere in wirtschaftlich schwachen Ländern und Regionen, die einerseits auf die Wachstumsimpulse chinesischer Investitionen angewiesen wären, andererseits nun aber eine übermäßige Abhängigkeit von und Erpressbarkeit durch chinesische Akteure fürchten.
Die Furcht, durch exzessive Verschuldung von China in eine Schuldenfalle zu geraten, hat in einzelnen Staaten Afrikas und Südostasiens entweder Schockstarre hervorgerufen oder aber zur unilateralen Stornierung von Projekten mit chinesischen Partnern geführt. Dabei ist aber der als wohl ursächlich für diese negative Stimmung anzuführende Fall der Verpachtung der Hafenanlagen von Hambantota (Sri Lanka) für 99 Jahre an chinesische Betreiber bei näherer Analyse eher das Fanal, das eine Wiederholung derartiger Praktiken ausschließen sollte. Die hier zugeschnappte Schuldenfalle bedient einen kommerziellen Reflex der Kreditbesicherung bei Zahlungsausfall. Sie reflektiert aber nicht die Interessen einer langfristig ausgerichteten chinesischen Geopolitik. Derartige Maßnahmen rufen massiven Widerstand in der lokalen Bevölkerung hervor, gefährden den Herrschaftsanspruch chinafreundlicher Eliten und engen letztlich den Handlungsspielraum chinesischer Akteure ein. Chinesische Unternehmen und Regierungsvertreter haben von daher ein beträchtliches Eigeninteresse, derartige Maßnahmen zur Sicherung eigener Finanzierungen in Zukunft nicht wieder einzusetzen.
Proteste entzünden sich aber auch an den ökologischen Folgen diverser Projekte entlang der Neuen Seidenstraße. Umwelt-NGOs haben ihre Zweifel an der Nachhaltigkeit chinesisch geführter Projekte angemeldet. Hierauf hat die chinesische Seite zwar umgehend mit einer Selbstverpflichtung zum Prinzip der grünen Entwicklung und grünen Investitionsstrategie reagiert. Die Vorwürfe, dass hier ein „green washing“ betrieben werde, sind aber insofern nicht ganz von der Hand zu weisen, als dass die VR China zum Beispiel nicht nur grüne Technologien entlang ihrer Seidenstraßenkorridore exportiert – sondern weltweit Kohlekraftwerke baut.
Zwischenbilanz und Ausblick
Chinas Neue-Seidenstraßen-Initiative hat das Stadium einer euphorischen Aufbruchsstimmung verlassen und ist mittlerweile in der Realität der operativen Umsetzung angekommen. Und hier tauchen zahlreiche Probleme auf, die in der großen Vision übersehen worden sind. Hatte die Maxime der VR China seit 2013 zunächst maximale Diversifizierung der Wirtschafts- und Handelskooperationsstrukturen gelautet, zeichnen sich seit der Debatte über die Schuldenfallen der Seidenstraße bedächtigere Züge ab. Wachsende Sicherheitsrisiken führen außerdem dazu, dass die Dynamik der Projektumsetzung nachlässt. Bürgerkriege und Unruhen entlang der von China initiierten Seidenstraßen-Korridore bedeuten ein Sicherheitsrisiko für die dort agierenden chinesischen Individuen, Unternehmen und Banken – und könnten zentrale transkontinentale Versorgungsrouten über lange Zeit unterbrechen. Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie hat sich allerdings Chinas Sicherheitsperzeption erneut verschoben. Es sind nicht länger allein bewaffnete Konflikte entlang der Seidenstraßen-Korridore, sondern die immanente Gefahr eines (Re-)Imports des Corona-Virus, die zu einer temporären Einstellung beziehungsweise partiellen Reduzierung der chinesischen Bau- und Investitionseuphorie im Ausland geführt haben. Offiziell hält China an der Idee der Seidenstraße und der Umsetzung des großen Projektes der Bildung eines transeurasischen Wirtschaftsraums fest – der Zeitplan zur Implementierung ist jedoch substanziell über die Zeitachse gestreckt worden.
Einen Marshall-Plan hat die VR China mit der Neuen Seidenstraße nicht vorgelegt. Das wollte sie auch nie. Chinesische Analysten haben die Idee westlicher Kommentatoren, die Neue-Seidenstraßen-Initiative mit dem Marshall-Plan zu vergleichen, immer abgelehnt und auf die unterschiedlichen politischen (System-)Hintergründe hingewiesen. Die Teilnahme an der Initiative steht formal allen Staaten offen und ist weder an die Strukturen des jeweiligen Wirtschaftssystems noch an die Beschaffenheit des politischen Regimes gekoppelt. Eine exklusive Ausrichtung an chinesischen Vorlagen ist – im offiziellen Duktus – nicht intendiert. Dessen ungeachtet: Im Rahmen der Neuen-Seidenstraßen-Initiative kommt es sehr wohl zu einer Verbreitung chinesischer Wertvorstellungen und technologischer Standards, zudem werden chinesische Führungsansprüche zementiert – ganz ähnlich wie einst beim Marshall-Plan zugunsten der USA.
Nele Noesselt ist Inhaberin des Lehrstuhls für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt China/Ostasien an der Universität Duisburg-Essen.
nele.noesselt@uni-due.de
Markus Taube ist Inhaber des Lehrstuhls für Ostasienwirtschaft/China an der Mercator School of Management, Universität Duisburg-Essen.
markus.taube@uni-due.de
Dieser Beitrag ist in ChinaContact 3-2020 erschienen.