Als am 16. Februar die Waffen schwiegen und die quer durch beinahe alle führenden westlichen Medien angekündigte Großinvasion Russlands ausblieb, atmete die Welt erleichtert auf. Die langersehnte Atempause sollte allerdings keine 24 Stunden währen.
Bereits in den frühen Morgenstunden des 17. Februar berichteten die russischen Medien von einer zunehmend eskalierenden Lage inklusive Artilleriebeschuss entlang der gesamten Kontaktlinie im Donbass. In einer Pressekonferenz bezeichnete der Kremlsprecher Dmitri Peskow die Lage im Donbass mit Blick auf ein enormes Offensivpotenzial der Ukraine als eskalierend. Diese Entwicklungen zusammen mit den anhaltenden russischen Vorwürfen über angebliche Massengräber im Donbass (eine offensichtliche Parallele zu Kosovo) und der Einleitung von Ermittlungen durch das Untersuchungskomitee Russlands zeugen keinesfalls von einer Deeskalation. Zwar sind diese Gerüchte nicht neu, da das russische Staatsfernsehen seit Beginn des Konfliktes teils in einer sehr plakativ-obszönen Sprache von Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung berichtet, jedoch scheinen sich diese Berichte in jüngster Zeit zu häufen. Nachdem in den sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk über 773.000 russische Staatsbürger leben, wofür Moskau „in weiser Voraussicht“ in den vergangenen Jahren sorgte, erscheinen diese Entwicklungen umso pikanter zu sein.
Von der zweifelhaften Schönheit einer Brieffreundschaft
Am Nachmittag des 17. Februars übermittelte Russland Washington die offizielle Antwort auf die schriftlichen Angebote der USA. Eine Antwort auf die Vorschläge der NATO werde dagegen noch einige Tage in Anspruch nehmen, so der Vize-Außenminister Russlands Alexander Gruschko. Während die Inhalte des US-amerikanischen Schreibens lange unbekannt blieben, veröffentlichte Moskau die eigene Stellungnahme unmittelbar nach offizieller Übermittlung. Darin weist Moskau die Gegenvorschläge Washingtons auf die zentralen Forderungen Russlands nach Sicherheitsgarantien als „nicht konstruktiv“ entschieden zurück, hält an der ursprünglich vorgeschlagenen Gesamtpaketlösung fest und droht aufgrund „mangelnder Bereitschaft der USA“ zu „rechtsverbindlichen Sicherheitsgarantien“ weitreichende militärisch-technische Reaktionen an. Einen kleinen Vorgeschmack auf die von Russland in den vergangenen Wochen vielbeschworene militärisch-technische Antwort gab am Donnerstag der Präsident der Republik Belarus Alexander Lukaschenko in gewohnt clownesker Manier zum Besten. Während der Außenminister von Belarus Wladimir Makei noch am Vortag den Verbleib auch nur eines russischen Soldaten nach Ende der Militärmanöver am 20. Februar auf das Schärfste zurückwies, deutete Lukaschenko die permanente Stationierung russischer Iskander-Raketensysteme und S-400-Langstrecken-Boden-Luft-Raketen an. Die endgültige Entscheidung soll noch vor dem Ende der belarussisch-russischen Militärmanöver fallen.
Nach wie vor fordert Russland neben der Absage an jede weitere NATO-Erweiterung die Rücknahme der sogenannten „Bukarester Formel“, wonach die Ukraine und Georgien in Zukunft NATO-Mitglieder werden sollen. Des Weiteren erwartet Moskau den Verzicht auf die Errichtung von Militärstützpunkten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetrepubliken, die nicht NATO-Mitglieder sind, einschließlich der Nutzung ihrer Infrastruktur für militärische Aktivitäten. Der umstrittenste Punkt dürfte aber die Forderung nach Rückführung militärischer Fähigkeiten der NATO, einschließlich der Angriffsfähigkeit sowie der Infrastruktur auf den Stand der NATO-Russland-Gründungsakte aus dem Jahre 1997 sein. Zum wiederholten Mal zeigt sich Moskau „über die zunehmenden militärischen Aktivitäten der USA und der NATO direkt an den Grenzen Russlands“ beunruhigt und behauptet, dass die russischen Sicherheitsinteressen sowie „das souveräne Recht Russlands, diese zu verteidigen“ vom Westen missachtet werden.
Moskau bei Donbass nur „Vermittler“
Auch auf die eigene Lesart der Entwicklungen rund um die Ukraine geht das russische Dokument ausführlich ein. Russland wirft den USA vor, seit Herbst 2021 „unbegründete Gerüchte“ über eine angebliche „russische Invasion“ zu streuen, und erblickt im westlichen Beharren auf russischer Verantwortung für die aktuelle Eskalation einen Versuch Russland „unter Druck zu setzen“, um dadurch die berechtigten russischen „Vorschläge über Sicherheitsgarantien zu entwerten“.
Weiter weist Moskau jedwede Verantwortung für den Verstoß gegen das Budapester Memorandum als unbegründet von sich. Der Verlust territorialer Integrität der Ukraine sei ausschließlich das „Ergebnis innerukrainischer Prozesse“. Den Vorwurf der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim weist Russland naheliegenderweise scharf zurück. Die Einverleibung der Krim war für Moskau „völkerrechtskonform“ und erfolgte „in Übereinstimmung mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker“. Die Frage nach dem Status der Krim „stelle sich nicht“ mehr. Der Konflikt im Donbass sei ebenfalls ganz ohne Zutun Moskaus entstanden und auf innenukrainische Entwicklungen zurückzuführen. Russland sei ein Konfliktvermittler und keine Konfliktpartei. Die Lösung des Konfliktes im Donbass sei nur auf dem Wege der Erfüllung der Minsker Abkommen möglich. Im potenziellen NATO-Beitritt der Ukraine erblickt Moskau die Gefahr, dass Kiew versuchen könnte, die Krim gewaltsam zurückzuerobern, wodurch die NATO in einen direkten bewaffneten Konflikt mit Russland hineingezogen werden würde.
Für eine nachhaltige Deeskalation bedarf es aus russischer Sicht zwingend der Umsetzung der Minsker Abkommen, des sofortigen Abzugs aller westlichen Militärberater und Ausbilder sowie des Verzichts der NATO auf alle gemeinsamen Militärübungen mit den ukrainischen Streitkräften. Schließlich dürfen keine weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine erfolgen, die bereits gelieferten Waffen sollen wieder abgezogen werden.
Die Eskalationsspirale beginnt sich zu drehen
Ab frühen Nachmittag des 18. Februar ging es Schlag auf Schlag. Aufgrund einer angeblich bevorstehenden ukrainischen Großoffensive in der Ostukraine kündigten die Leiter der beiden sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk eine Evakuierung der Zivilbevölkerung an und forderten Frauen, Kinder und Senioren dazu auf, nach Russland auszureisen. Die ukrainische Regierung wies alle Vorwürfe einer militärischen Eskalation umgehend zurück. Am Abend des 18. Februar sagte der US-amerikanischer Präsident Joseph Biden, dass er mit einem Angriff Russlands auf die Ukraine in den kommenden Tagen rechne; auch die Hauptstadt der Ukraine Kiew sei in Gefahr. Bis zum Beginn der Großoffensive sei aber die Diplomatie immer eine Möglichkeit, so Biden. Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bezeichnete angesichts eines fortgesetzten militärischen Aufmarschs Russlands entlang der Grenzen der Ukraine einen russischen Großangriff als wahrscheinlich. Am 19. Februar erfolgte in der Ostukraine eine massive Zunahme an Verstößen gegen die Waffenruhe entlang der gesamten Kontaktlinie. Die Beobachtermission der OSZE registrierte Hunderte Explosionen im gesamten Gebiet. Parallel zur Intensivierung der Kampfhandlungen warnten die Separatistenanführer vor einem bevorstehenden Angriff der Ukraine und ordneten eine Generalmobilmachung an. Die ukrainischen Streitkräfte betonten dagegen, keine Offensive im Donbass zu planen. Indessen rechnet die EU-Kommission im Falle umfassender Konflikteskalation mit über einer Million Flüchtlingen.
Anerkennen oder nicht anerkennen, das ist hier die Frage
Auch ein weiteres pikantes Detail sollte nicht unerwähnt bleiben. Am 15. Februar unterstützte die russische Staatsduma den Aufruf der Kommunistischen Partei an Wladimir Putin, die sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk anzuerkennen. Viele haben sich darüber verwundert gezeigt, warum gerade der Vorschlag der Kommunistischen Partei angenommen wurde, und nicht der im Vergleich dazu gemäßigtere Aufruf der Kremlpartei „Einiges Russland“, welcher zudem umfassende Konsultationen mit dem Außenamt und dem Verteidigungsministerium vorsah. Eine Erklärung für dieses Vorgehen könnte lauten: Nachdem der Aufruf von der Kommunistischen Partei stammt, kann Putin jenen viel einfacher ablehnen, als den „seriöseren“ Aufruf von „Einiges Russland“. Das gibt Putin mehr Handlungsoptionen sowie bei Bedarf die Gelegenheit in den Verhandlungen mit dem Westen, sich als staatsmännisch weise, vernünftig und geradezu gemäßigt zu inszenieren. Mit diesem bislang von Putin unbeantworteten Aufruf schafft sich Russland ein ernstzunehmendes Druckmittel für Verhandlungen und erweitert seine Handlungsmöglichkeiten gegenüber dem Westen und der Ukraine. Aber auch innenpolitisch gelingt es dem Kreml damit zu punkten. Der aktuellen innenpolitischen Maxime Russlands der Politik des kleinen Zuckerbrots und der großen Peitsche folgend, überließ man den Kommunisten einerseits das Vorrecht an den Präsidenten, eine wesentliche außenpolitische Frage zu adressieren, demonstrierte ihnen aber zugleich durch die sehr wahrscheinliche Ablehnung des Vorschlages öffentlichkeitswirksam ihre begrenzten Einflussmöglichkeiten. Für den kommenden 22. Februar kündigte die Staatsduma an, sich mit der Lage im Donbass zu befassen. Unbestätigten Gerüchten zufolge soll auch Wladimir Putin an der Sitzung teilnehmen.
Ärger im russisch-chinesischen Paradies
Die sogenannte Ukraine-Krise offenbarte erhebliche Differenzen in der Wahrnehmung dieser Ereignisse durch Moskau und Peking. So betonte bei der Münchner Sicherheitskonferenz Chinas Außenminister Wang Yi die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, die „Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität eines jeden Landes“ zu schützen; die Ukraine sei hier keine Ausnahme, so Wang. Diese deutlichen Worte zeugen davon, dass selbst eine begrenzte Militäroperation Russlands in der Ukraine, geschweige denn eine Großinvasion, von Peking keinesfalls begrüßt oder gar unterstützt wird. Die Einschätzung etlicher Experten, dass Russland den Zeitpunkt der Eskalation, ja der Ukraine-Krise selbst, den Wünschen Chinas gemäß ausrichten könnte, um die USA in Europa dauerhaft zu binden, übersieht das komplexe Verhältnis zwischen Moskau und Peking und überschätzt bei Weitem die politische Nähe der beiden Staaten. Russland und China verfolgen die jeweils eigenen Interessen, in bestimmten Bereichen kann es zwar zur Übereinstimmung kommen, Moskau wird jedoch trotzdem versuchen, jede Einseitigkeit in der Beziehung zu China zu vermeiden und eine außenpolitische Balance um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Denn die Kosten einer alternativlosen freundschaftlichen Umarmung Pekings wären unsagbar hoch. Auch deswegen braucht Moskau ein zumindest ansatzweise annehmbares Verhältnis zum Westen.
Die nächsten Tage sind entscheidend
Von einer Deeskalation könnte die russische Antwort an die USA kaum weiter entfernt sein. So bekräftigt Russland nicht nur das alternativlose Festhalten an den eigenen Vorschlägen im Sinne einer – für die USA und NATO in keiner Form akzeptablen – Gesamtpaketlösung, sondern geht einen Schritt weiter und baut seine ursprünglichen Forderungen sogar noch etwas aus. Aus diesem Grund kann die russische Antwort kaum als ein ernstgemeintes und faires Verhandlungsangebot an die USA gewertet werden. Das ist umso verwunderlicher, als Moskau über wenige Wochen vielmehr erreicht hat, als auch nur annähernd möglich zu sein schien.
Auch die intensive – von russischer Seite nur zu offensichtlich minutiös inszenierte – Konflikteskalation der vergangenen Tage im Donbass, der weiterlaufende militärische Aufbau entlang ukrainischer Grenzen sowie die Absage des mehrfach angekündigten Abzuges russischer Truppen sind alles andere als beruhigend und zeugen keinesfalls von einer militärischen Deeskalationsbereitschaft Russlands. Im Idealfall versucht Russland, den Spannungsbogen in den Verhandlungen mit dem Westen möglichst lange aufrechtzuerhalten, um auf diese Weise indirekt den westlichen Druck auf die Ukraine zu erhöhen und einen Keil in die ohnehin angespannte Beziehung zu treiben. Ob dieser Idealfall freilich vorliegt, wissen wohl nur sehr wenige.
Doch parallel zur Zuspitzung des Konfliktes wird über unterschiedliche Kanäle nach einer diplomatischen Lösung gesucht. So telefonierte am 20. Februar der französische Staatspräsident Emmanuel Macron mit Wladimir Putin. Obwohl Putin gegenüber Macron den Wunsch nach einer „konkreten und substanziellen“ Antwort auf die russischen Sicherheitsforderungen bekräftigte, stimmte er dennoch der Wiederaufnahme der Arbeit der Trilateralen Kontaktgruppe (Vertreter Russlands, der Ukraine sowie der OSZE) zu. Aus heutiger Sicht sind unterschiedliche Szenarien möglich. Über die Zukunft der Militäreskalation werden die kommenden Tage entscheiden.
Dr. Alexander Dubowy ist Politikanalyst und Forscher internationaler Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum.
Ukraine-Krise: Die nächsten Tage sind entscheidend
Als am 16. Februar die Waffen schwiegen und die quer durch beinahe alle führenden westlichen Medien angekündigte Großinvasion Russlands ausblieb, atmete die Welt erleichtert auf. Die langersehnte Atempause sollte allerdings keine 24 Stunden währen.
Bereits in den frühen Morgenstunden des 17. Februar berichteten die russischen Medien von einer zunehmend eskalierenden Lage inklusive Artilleriebeschuss entlang der gesamten Kontaktlinie im Donbass. In einer Pressekonferenz bezeichnete der Kremlsprecher Dmitri Peskow die Lage im Donbass mit Blick auf ein enormes Offensivpotenzial der Ukraine als eskalierend. Diese Entwicklungen zusammen mit den anhaltenden russischen Vorwürfen über angebliche Massengräber im Donbass (eine offensichtliche Parallele zu Kosovo) und der Einleitung von Ermittlungen durch das Untersuchungskomitee Russlands zeugen keinesfalls von einer Deeskalation. Zwar sind diese Gerüchte nicht neu, da das russische Staatsfernsehen seit Beginn des Konfliktes teils in einer sehr plakativ-obszönen Sprache von Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung berichtet, jedoch scheinen sich diese Berichte in jüngster Zeit zu häufen. Nachdem in den sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk über 773.000 russische Staatsbürger leben, wofür Moskau „in weiser Voraussicht“ in den vergangenen Jahren sorgte, erscheinen diese Entwicklungen umso pikanter zu sein.
Von der zweifelhaften Schönheit einer Brieffreundschaft
Am Nachmittag des 17. Februars übermittelte Russland Washington die offizielle Antwort auf die schriftlichen Angebote der USA. Eine Antwort auf die Vorschläge der NATO werde dagegen noch einige Tage in Anspruch nehmen, so der Vize-Außenminister Russlands Alexander Gruschko. Während die Inhalte des US-amerikanischen Schreibens lange unbekannt blieben, veröffentlichte Moskau die eigene Stellungnahme unmittelbar nach offizieller Übermittlung. Darin weist Moskau die Gegenvorschläge Washingtons auf die zentralen Forderungen Russlands nach Sicherheitsgarantien als „nicht konstruktiv“ entschieden zurück, hält an der ursprünglich vorgeschlagenen Gesamtpaketlösung fest und droht aufgrund „mangelnder Bereitschaft der USA“ zu „rechtsverbindlichen Sicherheitsgarantien“ weitreichende militärisch-technische Reaktionen an. Einen kleinen Vorgeschmack auf die von Russland in den vergangenen Wochen vielbeschworene militärisch-technische Antwort gab am Donnerstag der Präsident der Republik Belarus Alexander Lukaschenko in gewohnt clownesker Manier zum Besten. Während der Außenminister von Belarus Wladimir Makei noch am Vortag den Verbleib auch nur eines russischen Soldaten nach Ende der Militärmanöver am 20. Februar auf das Schärfste zurückwies, deutete Lukaschenko die permanente Stationierung russischer Iskander-Raketensysteme und S-400-Langstrecken-Boden-Luft-Raketen an. Die endgültige Entscheidung soll noch vor dem Ende der belarussisch-russischen Militärmanöver fallen.
Nach wie vor fordert Russland neben der Absage an jede weitere NATO-Erweiterung die Rücknahme der sogenannten „Bukarester Formel“, wonach die Ukraine und Georgien in Zukunft NATO-Mitglieder werden sollen. Des Weiteren erwartet Moskau den Verzicht auf die Errichtung von Militärstützpunkten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetrepubliken, die nicht NATO-Mitglieder sind, einschließlich der Nutzung ihrer Infrastruktur für militärische Aktivitäten. Der umstrittenste Punkt dürfte aber die Forderung nach Rückführung militärischer Fähigkeiten der NATO, einschließlich der Angriffsfähigkeit sowie der Infrastruktur auf den Stand der NATO-Russland-Gründungsakte aus dem Jahre 1997 sein. Zum wiederholten Mal zeigt sich Moskau „über die zunehmenden militärischen Aktivitäten der USA und der NATO direkt an den Grenzen Russlands“ beunruhigt und behauptet, dass die russischen Sicherheitsinteressen sowie „das souveräne Recht Russlands, diese zu verteidigen“ vom Westen missachtet werden.
Moskau bei Donbass nur „Vermittler“
Auch auf die eigene Lesart der Entwicklungen rund um die Ukraine geht das russische Dokument ausführlich ein. Russland wirft den USA vor, seit Herbst 2021 „unbegründete Gerüchte“ über eine angebliche „russische Invasion“ zu streuen, und erblickt im westlichen Beharren auf russischer Verantwortung für die aktuelle Eskalation einen Versuch Russland „unter Druck zu setzen“, um dadurch die berechtigten russischen „Vorschläge über Sicherheitsgarantien zu entwerten“.
Weiter weist Moskau jedwede Verantwortung für den Verstoß gegen das Budapester Memorandum als unbegründet von sich. Der Verlust territorialer Integrität der Ukraine sei ausschließlich das „Ergebnis innerukrainischer Prozesse“. Den Vorwurf der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim weist Russland naheliegenderweise scharf zurück. Die Einverleibung der Krim war für Moskau „völkerrechtskonform“ und erfolgte „in Übereinstimmung mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker“. Die Frage nach dem Status der Krim „stelle sich nicht“ mehr. Der Konflikt im Donbass sei ebenfalls ganz ohne Zutun Moskaus entstanden und auf innenukrainische Entwicklungen zurückzuführen. Russland sei ein Konfliktvermittler und keine Konfliktpartei. Die Lösung des Konfliktes im Donbass sei nur auf dem Wege der Erfüllung der Minsker Abkommen möglich. Im potenziellen NATO-Beitritt der Ukraine erblickt Moskau die Gefahr, dass Kiew versuchen könnte, die Krim gewaltsam zurückzuerobern, wodurch die NATO in einen direkten bewaffneten Konflikt mit Russland hineingezogen werden würde.
Für eine nachhaltige Deeskalation bedarf es aus russischer Sicht zwingend der Umsetzung der Minsker Abkommen, des sofortigen Abzugs aller westlichen Militärberater und Ausbilder sowie des Verzichts der NATO auf alle gemeinsamen Militärübungen mit den ukrainischen Streitkräften. Schließlich dürfen keine weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine erfolgen, die bereits gelieferten Waffen sollen wieder abgezogen werden.
Die Eskalationsspirale beginnt sich zu drehen
Ab frühen Nachmittag des 18. Februar ging es Schlag auf Schlag. Aufgrund einer angeblich bevorstehenden ukrainischen Großoffensive in der Ostukraine kündigten die Leiter der beiden sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk eine Evakuierung der Zivilbevölkerung an und forderten Frauen, Kinder und Senioren dazu auf, nach Russland auszureisen. Die ukrainische Regierung wies alle Vorwürfe einer militärischen Eskalation umgehend zurück. Am Abend des 18. Februar sagte der US-amerikanischer Präsident Joseph Biden, dass er mit einem Angriff Russlands auf die Ukraine in den kommenden Tagen rechne; auch die Hauptstadt der Ukraine Kiew sei in Gefahr. Bis zum Beginn der Großoffensive sei aber die Diplomatie immer eine Möglichkeit, so Biden. Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bezeichnete angesichts eines fortgesetzten militärischen Aufmarschs Russlands entlang der Grenzen der Ukraine einen russischen Großangriff als wahrscheinlich. Am 19. Februar erfolgte in der Ostukraine eine massive Zunahme an Verstößen gegen die Waffenruhe entlang der gesamten Kontaktlinie. Die Beobachtermission der OSZE registrierte Hunderte Explosionen im gesamten Gebiet. Parallel zur Intensivierung der Kampfhandlungen warnten die Separatistenanführer vor einem bevorstehenden Angriff der Ukraine und ordneten eine Generalmobilmachung an. Die ukrainischen Streitkräfte betonten dagegen, keine Offensive im Donbass zu planen. Indessen rechnet die EU-Kommission im Falle umfassender Konflikteskalation mit über einer Million Flüchtlingen.
Anerkennen oder nicht anerkennen, das ist hier die Frage
Auch ein weiteres pikantes Detail sollte nicht unerwähnt bleiben. Am 15. Februar unterstützte die russische Staatsduma den Aufruf der Kommunistischen Partei an Wladimir Putin, die sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk anzuerkennen. Viele haben sich darüber verwundert gezeigt, warum gerade der Vorschlag der Kommunistischen Partei angenommen wurde, und nicht der im Vergleich dazu gemäßigtere Aufruf der Kremlpartei „Einiges Russland“, welcher zudem umfassende Konsultationen mit dem Außenamt und dem Verteidigungsministerium vorsah. Eine Erklärung für dieses Vorgehen könnte lauten: Nachdem der Aufruf von der Kommunistischen Partei stammt, kann Putin jenen viel einfacher ablehnen, als den „seriöseren“ Aufruf von „Einiges Russland“. Das gibt Putin mehr Handlungsoptionen sowie bei Bedarf die Gelegenheit in den Verhandlungen mit dem Westen, sich als staatsmännisch weise, vernünftig und geradezu gemäßigt zu inszenieren. Mit diesem bislang von Putin unbeantworteten Aufruf schafft sich Russland ein ernstzunehmendes Druckmittel für Verhandlungen und erweitert seine Handlungsmöglichkeiten gegenüber dem Westen und der Ukraine. Aber auch innenpolitisch gelingt es dem Kreml damit zu punkten. Der aktuellen innenpolitischen Maxime Russlands der Politik des kleinen Zuckerbrots und der großen Peitsche folgend, überließ man den Kommunisten einerseits das Vorrecht an den Präsidenten, eine wesentliche außenpolitische Frage zu adressieren, demonstrierte ihnen aber zugleich durch die sehr wahrscheinliche Ablehnung des Vorschlages öffentlichkeitswirksam ihre begrenzten Einflussmöglichkeiten. Für den kommenden 22. Februar kündigte die Staatsduma an, sich mit der Lage im Donbass zu befassen. Unbestätigten Gerüchten zufolge soll auch Wladimir Putin an der Sitzung teilnehmen.
Ärger im russisch-chinesischen Paradies
Die sogenannte Ukraine-Krise offenbarte erhebliche Differenzen in der Wahrnehmung dieser Ereignisse durch Moskau und Peking. So betonte bei der Münchner Sicherheitskonferenz Chinas Außenminister Wang Yi die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, die „Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität eines jeden Landes“ zu schützen; die Ukraine sei hier keine Ausnahme, so Wang. Diese deutlichen Worte zeugen davon, dass selbst eine begrenzte Militäroperation Russlands in der Ukraine, geschweige denn eine Großinvasion, von Peking keinesfalls begrüßt oder gar unterstützt wird. Die Einschätzung etlicher Experten, dass Russland den Zeitpunkt der Eskalation, ja der Ukraine-Krise selbst, den Wünschen Chinas gemäß ausrichten könnte, um die USA in Europa dauerhaft zu binden, übersieht das komplexe Verhältnis zwischen Moskau und Peking und überschätzt bei Weitem die politische Nähe der beiden Staaten. Russland und China verfolgen die jeweils eigenen Interessen, in bestimmten Bereichen kann es zwar zur Übereinstimmung kommen, Moskau wird jedoch trotzdem versuchen, jede Einseitigkeit in der Beziehung zu China zu vermeiden und eine außenpolitische Balance um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Denn die Kosten einer alternativlosen freundschaftlichen Umarmung Pekings wären unsagbar hoch. Auch deswegen braucht Moskau ein zumindest ansatzweise annehmbares Verhältnis zum Westen.
Die nächsten Tage sind entscheidend
Von einer Deeskalation könnte die russische Antwort an die USA kaum weiter entfernt sein. So bekräftigt Russland nicht nur das alternativlose Festhalten an den eigenen Vorschlägen im Sinne einer – für die USA und NATO in keiner Form akzeptablen – Gesamtpaketlösung, sondern geht einen Schritt weiter und baut seine ursprünglichen Forderungen sogar noch etwas aus. Aus diesem Grund kann die russische Antwort kaum als ein ernstgemeintes und faires Verhandlungsangebot an die USA gewertet werden. Das ist umso verwunderlicher, als Moskau über wenige Wochen vielmehr erreicht hat, als auch nur annähernd möglich zu sein schien.
Auch die intensive – von russischer Seite nur zu offensichtlich minutiös inszenierte – Konflikteskalation der vergangenen Tage im Donbass, der weiterlaufende militärische Aufbau entlang ukrainischer Grenzen sowie die Absage des mehrfach angekündigten Abzuges russischer Truppen sind alles andere als beruhigend und zeugen keinesfalls von einer militärischen Deeskalationsbereitschaft Russlands. Im Idealfall versucht Russland, den Spannungsbogen in den Verhandlungen mit dem Westen möglichst lange aufrechtzuerhalten, um auf diese Weise indirekt den westlichen Druck auf die Ukraine zu erhöhen und einen Keil in die ohnehin angespannte Beziehung zu treiben. Ob dieser Idealfall freilich vorliegt, wissen wohl nur sehr wenige.
Doch parallel zur Zuspitzung des Konfliktes wird über unterschiedliche Kanäle nach einer diplomatischen Lösung gesucht. So telefonierte am 20. Februar der französische Staatspräsident Emmanuel Macron mit Wladimir Putin. Obwohl Putin gegenüber Macron den Wunsch nach einer „konkreten und substanziellen“ Antwort auf die russischen Sicherheitsforderungen bekräftigte, stimmte er dennoch der Wiederaufnahme der Arbeit der Trilateralen Kontaktgruppe (Vertreter Russlands, der Ukraine sowie der OSZE) zu. Aus heutiger Sicht sind unterschiedliche Szenarien möglich. Über die Zukunft der Militäreskalation werden die kommenden Tage entscheiden.
Dr. Alexander Dubowy ist Politikanalyst und Forscher internationaler Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum.